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Das Seelsorgegeheimnis wahren –
vor Missbrauch schützen
Handreichung zum Umgang
mit der Schweigepflicht
für Seelsorgerinnen und Seelsorger
in der Nordkirche

Februar 2019

Impressum:
Die Erste Kirchenleitung hat sich diese Handreichung in ihrer Sitzung im Dezember 2018 zu Eigen gemacht. Sie dankt den Autorinnen und Autoren.
Kiel, im Februar 2019
Herausgeber:
Landeskirchenamt
Dezernat Kirchliche Handlungsfelder
Dänische Straße 21–35
24103 Kiel
Hauptbereich Seelsorge und gesellschaftlicher Dialog
Königstraße 54
22767 Hamburg
Bestellung:
Druckexemplar und PDF-Datei1#
www.bestellung-nordkirche.de
Gestaltung:
Finn Sievers, Landeskirchenamt
Titelbild: 2#
© Rainer Sturm_pixelio.de
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Vorwort

Die seelsorgliche Verschwiegenheit ist ein hohes Gut. Dies umso mehr, als die heutigen Kommunikationsbedingungen unter Umständen selbst Privates anderweitig zugänglich machen.
Die seelsorgliche Verschwiegenheit zu achten und zu wahren, ist eine der Grundvoraussetzungen für den großen Vertrauensvorschuss, den viele Menschen Seelsorgerinnen und Seelsorgern und der Kirche entgegenbringen.
Auf diese Weise kann ein Raum zur seelsorglichen Begegnung entstehen, ein geschützter Raum, in dem Anrührendes und Verletzlichkeit, Verschwiegenes, Scham und Schuld, Verzweiflung und NichtweiterWissen zu Ausdruck und Sprache finden und in Dialog kommen können. Ein Raum, in dem jede und jeder unbedingt angenommen ist, wie sie oder er ist. Ein Raum, in dem Menschen sich auf einen Weg einlassen und anders werden können – aus Kräften wie von anderswoher.
Erfahrungen mit diesem geschützten Raum der Seelsorge zeigen, dass es immer wieder zu praktischen und inhaltlichen Fragen kommt:
  • Wie ist dieser Raum seelsorglicher Verschwiegenheit abzugrenzen?
  • Wann wird dieser Raum in Anspruch genommen – wann nicht?
  • Wann also ist etwas Seelsorge – wann nicht?
  • Wie ist die seelsorgliche Verschwiegenheit im Rahmen therapeutischer Teams zu gewährleisten?
  • Wie ist mit dem unter Seelsorgegeheimnis Anvertrauten oder Deutlichwerdenden umzugehen?
  • Ist eine Entbindung von der seelsorglichen Schweigepflicht möglich und wenn ja, wie?
Eine besondere Problematik im Umgang mit dem Seelsorgegeheimnis entsteht, wenn deutlich wird, dass Gefahr im Verzuge besteht, für andere oder für das seelsorgliche Gegenüber selbst. Wie ist zu handeln, wenn die Verpflichtung zu seelsorglicher Verschwiegenheit einerseits und die Notwendigkeit von Prävention, Intervention und Hilfe andererseits in Konflikt treten?
Zum geschützten Raum der Seelsorge gehört, dass er eine Asymmetrie beinhaltet: die von Seelsorgerin oder Seelsorger einerseits und Seelsorge oder Beratung Suchendem andrerseits. Das Angebot von Seelsorge und Beratung setzt voraus, dass Menschen der Seelsorgerin bzw. dem Seelsorger Vertrauen entgegenbringen können. Erfahrungen mit der Asymmetrie dieses Schutzraums zeigen jedoch leider auch, dass es Missbrauch im Umgang mit dem Seelsorgegeheimnis gibt, unter Ausnutzung des bestehenden Machtgefälles. Damit so etwas nicht vorkommt, muss die Kirche Vorkehrungen getroffen haben; wo so etwas vorkommt, muss die Kirche konsequent handeln.
Sowohl konkrete Erfahrungen im Zusammenhang von Missbrauchsfällen im Bereich der Nordkirche als auch das Seelsorgegeheimnisgesetz der EKD und seine Umsetzung sind Auslöser dafür, der Bedeutung des Seelsorgegeheimnisses und dem Umgang mit seelsorglicher Verschwiegenheit näher nachzugehen.
Die hier vorgelegte Handreichung will zu den benannten Fragen Informationen, Hinweise und Orientierung geben. Dabei wird vorausgesetzt, dass es juristische und andere Rahmenbedingungen für die Seelsorge gibt, dass das seelsorgliche Geschehen selbst aber juristischer Regelung entzogen ist.
Zur Seelsorge insgesamt wird auf die im EKD-Zusammenhang entstandene Profilschrift „Menschen stärken. Seelsorge in der evangelischen Kirche“ von Kerstin Lammer, Sebastian Borck, Ingo Habenicht und Traugott Roser, Gütersloh 2015, verwiesen.
Indem die Handreichung zum Seelsorgegeheimnis Begriffe klärt, die geltenden Grundlagen zusammenstellt und dann in Fragen zum Umgang mit dem Seelsorgegeheimnis einsteigt, bis dahin, dass Gewissensfragen erörtert werden, wendet sie sich an alle, die in der Nordkirche seelsorglich tätig sind: Pastorinnen und Pastoren, hauptamtlich oder ehrenamtlich in einem näher bestimmten Seelsorge-Auftrag Tätige sowie darüber hinaus allgemein seelsorglich Tätige.
Wie in der Seelsorge selbst, so kommen auch in dieser Handreichung verschiedene Perspektiven zusammen. Verschiedene Anläufe, Überschneidungen, Redundanzen, aber auch Akzentunterschiede sind die Folge. In einer evangelischen Kirche gehört das dazu.
Die Handreichung ist im Auftrag der Kirchenleitung erstellt worden von einer Arbeitsgruppe unter Leitung von OKR Dr. Frank Ahlmann und Sebastian Borck. Mitgewirkt haben Gudrun Bielitz-Wulff, Reinhard Dircks, Florian Sebastian Ehlert, Andreas Hänßgen, Martin Kühn, Anne Reichmann, Manfred Rosenau, Bettina Seiler, Andreas Wandtke-Grohmann, außerdem OKRin Katrin Anton und OKR Dr. Matthias Triebel.
Nachdem die Arbeit an der Handreichung i. W. abgeschlossen war, hat die Landessynode im März 2018 das „Kirchengesetz zur Prävention und Intervention gegen sexualisierte Gewalt in der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland und ihrer Diakonie“ beschlossen – es ist im Anhang7# wiedergegeben.
Ziel der Handreichung ist es, einen Prozess der weitergehenden Verständigung zu eröffnen. Darum sind auch Kommentare und Hinweise von Ihnen, den Leserinnen und Lesern, sehr willkommen.
Dezember 2018
Für die Arbeitsgruppe:
Dr. Frank Ahlmann, Sebastian Borck
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Grundlagen

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1) Seelsorge als offenes Angebot

„Seelsorge kann man als offenes Angebot der Kirche zur Lebensbegleitung und Lebensdeutung im Horizont des christlichen Glaubens definieren.“ ( Kerstin Lammer: Das Kreuz mit dem Beruf, 2007)
Seelsorge umfasst den ganzen Menschen in seinen verschiedenen Lebensbezügen, in seiner Persönlichkeit, in seinem Beruf, in seinen sozialen Bezügen und in seinem geistlichen Wachstum.
Sie hilft, das eigene Leben und die jeweiligen Fragen zu reflektieren.
Sie kann in Notsituationen tröstend und stabilisierend wirken. Sie kann in Grenzsituationen befreiend und hilfreich sein.
Sie geschieht im Kontakt mit einem Gegenüber: im Zuhören, Verstehen, Resonanz- Geben, womöglich indem ein Gebet gesprochen wird oder eine Beichte abgenommen wird.
Das seelsorgliche Gespräch rechnet mit der Wirkung und der Gegenwart Gottes. Dies muss nicht explizit ausgesprochen sein. Es geschieht auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes, das zum einen davon geprägt ist, den Menschen als Ebenbild Gottes anzusehen, womit die Würde des Einzelnen und auch das Zutrauen in seine Möglichkeiten beschrieben sind.
Zum anderen rechnet das christliche Menschenbild mit der Gebrochenheit des Menschen. Er wird als Gerechte/r und Sünder/in zugleich (simul justus et peccator) gesehen. Der Mensch wird in seinem Zwiespalt angenommen und verstanden.
Das seelsorgliche Gespräch ist nicht an einen bestimmten Ort gebunden: Es kann sowohl im Amtszimmer als auch auf dem Marktplatz, im Krankenhaus oder in der privaten Wohnung entstehen. Auch die Inhalte sind nicht festgelegt. Ein Gespräch auf dem Marktplatz kann seelsorglich sein, allein weil es so empfunden wird: z. B. als wertschätzend, Mittel gegen Angst, Trost bei Einsamkeit oder Trauer oder auch nur als eine Form des Kontaktes mit der Kirche durch einen Seelsorger oder eine Seelsorgerin.
Es sind die Gesprächsteilnehmenden, sowohl die Seelsorger/in als auch die Gesprächspartner/in, die den Kontakt als Seelsorge benennen.
Seelsorge kommt nur durch die freie Bereitschaft beider dazu zustande.
Im Gegensatz zur Psychotherapie braucht das seelsorgliche Gespräch kein konkretes Anliegen, um als seelsorgliches Gespräch beschrieben zu werden.
Meist ist das seelsorgliche Gespräch von einer Rollenzuweisung geprägt. Die Rollen entstehen zum einen aus der Dynamik des Gespräches, zum anderen sind sie strukturell durch den Beruf oder den Auftrag bestimmt.
Die Dynamik ist einerseits davon geprägt, dass ein Seelsorgegespräch von dem Prinzip der „gleichen Augenhöhe“ bestimmt ist. Nicht der Experte kennt die Antwort und die Lösung für eine Frage oder ein Problem, sondern im Gespräch zwischen beiden wird eine Antwort gefunden oder entwickelt sich eine Lösung.
Anderseits ist trotz der partnerschaftlichen Gesprächshaltung die Rolle des Seelsorgers oder der Seelsorgerin von der eines Gesprächspartners zu unterscheiden. Denn im Fokus der Seelsorge stehen das Anliegen oder die Person des Gesprächssuchenden, nicht aber die Anliegen oder Bedürfnisse des Seelsorgers oder der Seelsorgerin. Die unterschiedlichen Rollen werden darin deutlich, dass der Seelsorger oder die Seelsorgerin dem Gegenüber Raum und Zeit schenkt, ihm zuhört und zu verstehen sucht. Nicht umgekehrt!
Zur Seelsorge gehört auch, dass etwas zurechtkommt. Das setzt voraus, dass ein Seelsorger oder eine Seelsorgerin nicht nur empathisch wahrnimmt und versteht, sondern in kritischer Solidarität auch kritisch ins Gegenüber zu gehen versteht. Auch eine „beherzte Konfrontation“ kann zur Seelsorge gehören.
Strukturell ist die Rolle des Seelsorgers oder der Seelsorgerin durch den Beruf und die konkrete Beauftragung als Pastor/in oder Diakon/in gesetzt. Daneben können Laien oder ehrenamtliche Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter nach einer angemessenen Ausbildung und mit einer entsprechenden Begleitung zur Seelsorge beauftragt werden. Diese „institutionelle“ Seelsorge wird durch das Kirchengesetz geschützt.
Darüber hinaus aber kann jeder Christ und jede Christin einem anderen Menschen zur Seelsorgerin werden, wie es im gemeindlichen Leben oft geschieht.
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2) Äußere Rahmenbedingungen zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses

Seelsorge ist zwar persönlich. Und sie gilt dem „unendlichen Wert der einzelnen Menschenseele“. Aber sie ist doch nicht einfach eine persönliche Angelegenheit, sondern ein Angebot, das aus einem gewissen Abstand heraus erfolgt. Dieser Abstand ermöglicht es, die Begegnung in einer professionellen Balance von Distanz und Nähe zu gestalten.
Dem sollen die äußeren Rahmenbedingungen entsprechen: Also keine private, sondern eine dienstliche Umgebung, nicht durch lauter private Familienbilder des oder der Seelsorgenden vorgeprägt, sondern bewusst auf Seelsorge suchende Menschen hin einladend und Raum gebend gestaltet. Wer zur Seelsorgerin kommt, soll durch die Bezeichnung des Raumes u. a. m. wissen, dass dies für die Seelsorgerin Dienst ist – und nicht private Unterhaltung.
In der Begegnung selbst wird dies zu Beginn in der bewussten Eröffnung eines seelsorglichen Angebots, in der Gesprächshaltung und -führung sowie am Ende in ggf. erfolgenden Verabredungen auch zum Ausdruck kommen. Die Verantwortung dafür liegt bei dem Seelsorger oder der Seelsorgerin. Das Gegenüber bleibt frei, darauf einzugehen oder nicht.
Zur Seelsorge gehören u. a. Standards in Gestalt bestimmter äußerer Rahmenbedingungen: In Ortsgemeinden und Pfarrhäusern, aber auch in besonderen Seelsorgediensten ist das in der Regel ein Dienstzimmer oder auch ein anderer Raum, der Seelsorgegespräche ungestört und ohne Mithören anderer zu führen erlaubt. Auch Zugangsbedingungen, die möglichst wenig privat sind, Telefon, PC etc. zur Termingestaltung und die Verwahrung persönlicher Daten unter Verschluss gehören dazu. Die Verantwortung für die Schaffung klarer äußerer, die Seelsorge ermöglichender Rahmenbedingungen liegt bei der zur Seelsorge beauftragten Person sowie bei der beauftragenden Einrichtung (z. B. Kirchenkreis oder Hauptbereich), häufig auch in Verabredung mit der Institution (z. B. Krankenhaus oder Strafvollzug), in deren Rahmen die Seelsorge stattfindet.
Zu den Standards gehört des Weiteren eine nach außen klar erkennbare Angebotsgestaltung, denn es handelt sich bei dem Angebot der Seelsorge um eine kostbare Ressource: Vor allem: Wann ist sie erreichbar? Wie wird sie bei Abwesenheit erreichbar? Dann aber auch: Was wird angeboten? Welche Situationen und Fragen führen Menschen dazu, nach Seelsorge zu suchen? Welche Zeit wird zur Verfügung gestellt? Hier sind sorgfältige Formulierungen sinnvoll – zur Veröffentlichung im Gemeindebrief und auf öffentlichen Informationstafeln. Eine Homepage kann entsprechend einladend gestaltet sein.
Zu den äußeren Rahmenbedingungen gehört schließlich, die Voraussetzungen kenntlich zu machen: die Qualifikation zur Seelsorge und die Beauftragung dazu. Sowohl für die Seelsorgeperson selbst als auch für die Seelsorge-Suchenden ist es wichtig, dass immer wieder deutlich wird, dass Seelsorge in einer Beauftragung, in einem Dienst-Verhältnis – also nicht „einfach so“, nicht voraussetzungslos geschieht. ÄrztInnen hängen entsprechende Zertifikate in ihre Praxisräume. PastorInnen sind zur Seelsorge ausgebildet, haben ggf. eine pastoralpsychologische Zusatzausbildung, nehmen Fortbildungen wahr, überprüfen ihre Arbeit durch Supervision und haben Vorgesetzte.
Das einzelne Seelsorgeangebot steht in einem größeren professionell und institutionell geordneten Rahmen. Was im Einzelnen geschieht, ist der Haltung und der Qualität nach Ausdruck seelsorglicher Präsenz, für die die Kirche in der Gesellschaft steht.
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3) Innere Voraussetzungen zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses

Weit mehr als ein Alltagsgespräch ist das seelsorgliche Gespräch auf Vertrauen angewiesen. Es soll Raum bieten, auch Verletzlichkeiten, Empfindlichkeiten und Abhängigkeiten zu zeigen. Entsprechend muss der seelsorgliche Gesprächsraum gegenüber Gefährdungen geschützt werden.
Um Vertrauen zu ermöglichen, braucht es für die Seelsorge entsprechende Schutzvorkehrungen – und zwar über die Regelungen der Verschwiegenheit und der Schweigepflicht hinaus und vor allem viel tiefer gehend:
Grundlage dazu ist vor allem das Lernen des Seelsorgenden im Umgang mit sich selbst. Durch Selbstreflexion und Selbsterfahrung kommen Seelsorgende verstärkt in Kontakt mit eigenen Gefühlen und Begehrlichkeiten, lernen diese näher zu verstehen und angemessen einzugrenzen. Dadurch werden sie überhaupt frei, wahrzunehmen und genauer hinzusehen. Und sie lernen auch, in der Begegnung sich selbst als Resonanzkörper wahrzunehmen und Deutlichgewordenes im Gespräch behutsam und kontrolliert einzusetzen. Solches Lernen braucht Zeit und gute Supervision, wie sie in verschiedenen Seelsorge-Ausbildungen angeboten wird.
Es sind jedoch auch vielfältige Gefährdungen möglich: Z. B. können sich die persönlichen oder institutionellen Interessen der Seelsorgenden in den Vordergrund drängen. Seelsorgende können ihre persönlichen Fragen in den Mittelpunkt stellen und von sich selbst sprechen. Sie können eigene Interessen in den Mittelpunkt stellen, z. B. eigene moralische Urteile und Wertungen und deshalb moralische Anweisungen einbringen. Sie können missionarische oder indoktrinatorische Interessen verfolgen. Ungeklärte institutionelle Wünsche (z. B. der Wunsch, Kirchenmitglieder anzuwerben) können sich ebenso auswirken wie das persönliche Mitteilungsbedürfnis der Seelsorgenden außerhalb der eigentlichen Gesprächssituation. Ungeklärte finanzielle Interessen können für Verwirrung sorgen.
Darüber hinaus ist auch von Konflikten zu reden: Es kann das persönliche Ethos des Seelsorgenden gegen das anstehen, was die Situation erfordert. Beispiele sind Diskussionen um die Sterbehilfe, aber auch Situationen im Kontext von sexualisierter Gewalt (Verschwiegenheit gegen Opferschutz). Es können sich widerstreitende ethisch-moralische oder ökonomische Interessen im Gespräch widerspiegeln. Seelsorgende können die eigenen Grenzen ihrer Professionalität verkennen. Nicht zuletzt können die (erotischen) Begehrlichkeiten von Seelsorgenden den Kontakt dominieren. In all diesen Fällen wird ein sinnvolles Maß an Abstinenz nicht gewährleistet und der geschützte Raum der Seelsorge gerät in Gefahr [siehe Präventionsgesetz der Nordkirche, im Anhang8#].
All diese Gefährdungen machen klar, wie wesentlich eine gute Seelsorge-Ausbildung mit hohem Anteil an Selbsterfahrung ist. Zu einer professionellen Balance von Nähe und Distanz ist regelmäßige Supervision unerlässlich.
Wenn Seelsorgende mit Menschen in ethischen Dilemmata-Situationen arbeiten, sollten sie ihre eigene Haltung zu den ethischen Fragen dieses Bereichs geklärt haben. So erlangen sie größere Freiheit, den ihnen anvertrauten ethischen Dilemmata zu begegnen und einen reflektierten Umgang zu finden.
Zur Ethik der Seelsorge gehört eine stete Weiterentwicklung der eigenen Seelsorgekompetenzen durch Fortbildung und Supervision. Professionalität ist damit ein Kennzeichen aller zur Seelsorge Beauftragten, d. h. sie bezieht sich auf haupt- wie auf ehrenamtlich Seelsorgende. Gerade diese Professionalisierung (z. B. in der Telefonseelsorge) bedeutet eine Aufwertung des Freiwilligendienstes.
In alldem geht es um die Verantwortung der Seelsorgenden, das Setting zu schützen und Abstinenz gegenüber Übergriffen wahren zu können. Der Schutz des Gespräches ist eine Frage der persönlichen Haltung und der Kompetenz von Seelsorgenden. Beides sollte durch verschiedene institutionelle Maßnahmen abgesichert und gerahmt werden. Beispielsweise sind im Organisationshandbuch Telefonseelsorge die für diesen Seelsorgebereich relevanten ethischen Haltungen beschrieben, darunter auch jene zur Verschwiegenheit und Schweigepflicht.
Die Deutsche Gesellschaft für Pastoralpsychologie (DGfP) hat als Berufsverband ethische Standards entwickelt, die für seine Mitglieder verpflichtend sind. Sie sind auch für andere hilfreich; Seelsorgende sollten sich daran orientieren. Es geht um die Verpflichtung
  • zum Beachten der Grenzen der eigenen Kompetenz und Qualifikation,
  • zum Verzicht auf Indoktrination,
  • zum Beachten der durch den Beruf entstehenden Abhängigkeit von Klientinnen und Klienten in Gruppen oder in der Arbeit mit einzelnen Personen z. B. im finanziellen Bereich,
  • zum Respektieren der persönlichen Integrität der Person,
  • zur uneingeschränkten Abstinenz im sexuellen Bereich gegenüber Klientinnen und Klienten und Ausbildungskandidaten und Ausbildungskandidatinnen,
  • zur Einhaltung der Schweigepflicht.
Eine Verletzung dieser Standards stellt die Beauftragung zur Seelsorge infrage; die DGfP sieht verschiedene Sanktionsmöglichkeiten von der Rüge bis zum Ausschluss vor.
Der geschilderte Erwerb von Kompetenzen und die Entwicklung einer seelsorglichen Haltung inklusive einer professionellen Balance von Nähe und Distanz bedeutet nicht nur einen Schutz für das jeweilige Gegenüber – er kann auch helfen, Grenzüberschreitungen von Klienten, u. U. in bestimmten Störungen begründete Distanzlosigkeiten u. a. m. frühzeitig zu erkennen und einzugrenzen. Der Erwerb innerer Voraussetzungen ist auch nötig zum Schutz der Seelsorgenden selbst.
All diese Regelungen, Haltungen und Vorkehrungen sind kein Selbstzweck. Sie haben ihre Funktion darin, den Raum für seelsorgliche Begegnungen zu ermöglichen und das Vertrauen als zentrales Gut der Seelsorge zu schützen.
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4) Rechtliche Grundlagen und Begriffe

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Die Verfassung der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland
zur Seelsorge

Die Evangelisch-Lutherische Kirche erfüllt ihre Aufgaben in der Bindung an den Auftrag ihres Herrn Jesus Christus und in der darin begründeten Freiheit als Dienst an allen Menschen. Sie verkündigt und bezeugt das Evangelium in Wort und Tat vor allem durch Gottesdienst, Gebet, Kirchenmusik, Kunst, Bildung und Unterricht, Erziehung, Seelsorge, Diakonie, Mission sowie durch Wahrnehmung ihrer Mitverantwortung für Gesellschaft und öffentliches Leben.
So heißt es grundlegend und u. a. die Seelsorge begründend in der Verfassung der Nordkirche in Artikel 1 zu Wesen und Auftrag der Kirche im 5. Absatz. Im Abschnitt zur Erfüllung des kirchlichen Auftrages heißt es dann – nach Artikeln zu Gemeinschaft der Dienste, Ehrenamtliche und berufliche Dienste und Amt der öffentlichen Verkündigung – in Artikel 17 zu Verschwiegenheitspflichten näherhin: Die Unverbrüchlichkeit des Beichtgeheimnisses und die seelsorgerliche Schweigepflicht sind zu wahren. Sie stehen unter dem Schutz der Kirche. Das Nähere, insbesondere die besondere Beauftragung mit der Seelsorge, wird durch Kirchengesetz oder aufgrund eines Kirchengesetzes geregelt. Beichtgeheimnis und seelsorgliche Schweigepflicht sind also beide genannt – dazu im Glossar mehr.
Hingewiesen wird auch auf die besondere Beauftragung mit der Seelsorge – dazu gleich mehr.
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Seelsorgegeheimnisgesetz der EKD sowie zur Anwendung und Umsetzung das nordkirchliche Ergänzungsgesetz mitsamt Rechtsverordnung

Das im ANHANG vollständig wiedergegebene EKD-Kirchengesetz zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses (Seelsorgegeheimnisgesetz – SeelGG vom 28. Oktober 2009)9# ist darauf ausgerichtet, zur Sicherstellung öffentlichen Schutzes des Seelsorgegeheimnisses kirchlicherseits zu definieren, was unter diesen Schutz fällt und wer mit einem bestimmten Seelsorge-Auftrag zu betrauen ist. Im Kern geht es darum, bestimmte Regelungen, die für Geistliche gelten, auch für andere zur Seelsorge ausgebildete Hauptamtliche und Ehrenamtliche geltend zu machen, soweit sie einen (entsprechend dem Gesetz) inhaltlich und zeitlich näher bestimmten Seelsorgeauftrag erhalten.
Das EKD-Gesetz kommt in der Nordkirche durch das entsprechende Seelsorgegeheimnisgesetzergänzungsgesetz (SeelGGErgG) vom 19. März 2015 mitsamt der dazugehörigen Rechtsverordnung vom 17. April 2015 zur Anwendung und Umsetzung (siehe ANHANG10#). Die drei Texte bilden einen inneren Zusammenhang.
Zur Klärung des Begriffs der Seelsorge auch im staatlichen Recht heißt es in § 2 Absatz 1 und 2 SeelGG:
( 1 ) Seelsorge im Sinne dieses Gesetzes ist aus dem christlichen Glauben motivierte und im Bewusstsein der Gegenwart Gottes vollzogene Zuwendung. Sie gilt dem einzelnen Menschen, der Rat, Beistand und Trost in Lebens- und Glaubensfragen in Anspruch nimmt, unabhängig von dessen Religions- bzw. Konfessionszugehörigkeit. Seelsorge ist für diejenigen, die sie in Anspruch nehmen, unentgeltlich.
( 2 ) Die förmliche Beichte gilt als Seelsorge im Sinne des Absatzes 1.
Zur Verschwiegenheit heißt es in § 2 Absatz 4 und 5 SeelGG:
( 4 ) Jede Person, die sich in einem Seelsorgegespräch einer Seelsorgerin oder einem Seelsorger anvertraut,muss darauf vertrauen können, dass daraus ohne ihren Willen keine Inhalte Dritten bekannt werden. Das Beichtgeheimnis ist unverbrüchlich zu wahren.
( 5 ) Das Seelsorgegeheimnis steht unter dem Schutz der Kirche. Es zu wahren, ist Pflicht aller Getauften und aller kirchlichen Stellen. Für kirchliche Mitarbeitende gehört es zu den dienstlichen Pflichten. …
Beichtgeheimnis und Seelsorgegeheimnis sind also durchaus zu unterscheiden. Zu schützen ist das Vertrauen der Person, die sich einer Seelsorgerin oder einem Seelsorger anvertraut. Ihre willentliche Zustimmung vorausgesetzt, können – anders als bei der Beichte – Inhalte aus einem Seelsorgegespräch durchaus Dritten gegenüber bekannt gemacht werden.
In den §§ 9 bis 12 enthält das SeelGG darüber hinaus nähere Bestimmungen zum äußeren Schutz des Seelsorgegeheimnisses:
§ 9 Grundsatz:
Bei der Seelsorge ist dafür Sorge zu tragen, dass die geführten Gespräche vertraulich sind und nicht von Dritten mitgehört werden können.
§ 10 Seelsorge in gewidmeten Räumen:
Für die Wahrnehmung des Seelsorgeauftrags können besonders zu diesem Zweck Räume gewidmet werden. …
§ 11 Seelsorge mit technischen Kommunikationsmitteln:
Soweit Seelsorge mit technischen Kommunikationsmitteln ausgeübt wird, haben die jeweilige kirchliche Dienststelle oder Einrichtung und die in der Seelsorge tätige Person dafür Sorge zu tragen, dass die Vertraulichkeit in höchstmöglichem Maß gewahrt bleibt.
§ 12 Umgang mit Seelsorgedaten:
Beim Umgang mit Seelsorgedaten jeglicher Art ist sicherzustellen, dass kirchliche und staatliche Bestimmungen zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses und die Anforderungen des kirchlichen Datenschutzrechts beachtet werden.
Im Einzelnen regelt das SeelGG, wer – unbeschadet des Auftrags aller Getauften, Seelsorge zu üben – von der Kirche mit einem besonderen Auftrag zur Seelsorge betraut werden kann: die Pastorinnen und Pastoren und darüber hinaus diejenigen haupt- oder ehrenamtlich Tätigen, die unter einigen Voraussetzungen, u. a. ihrer Qualifizierung zur Seelsorge, mit einem bestimmten Seelsorgeauftrag betraut werden.
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Pfarrdienstgesetz der EKD

Für die Pastorinnen und Pastoren ist das Pfarrdienstgesetz der EKD maßgeblich. In ihm heißt es im Kapitel 2 Pflichten zur Verschwiegenheit:
§ 30 Beichtgeheimnis und seelsorgliche Schweigepflicht
( 1 ) Pfarrerinnen und Pfarrer sind verpflichtet, das Beichtgeheimnis gegenüber jedermann unverbrüchlich zu wahren.
( 2 ) Pfarrerinnen und Pfarrer haben auch über alles zu schweigen, was ihnen in Ausübung der Seelsorge anvertraut worden oder bekannt geworden ist. Werden sie von der Person, die sich ihnen anvertraut hat, von der Schweigepflicht entbunden, sollen sie gleichwohl sorgfältig prüfen, ob und inwieweit sie Aussagen oder Mitteilungen verantworten können.
( 3 ) Soweit Pfarrerinnen und Pfarrern Nachteile aus der Pflicht zur Wahrung des Beichtgeheimnisses und der seelsorglichen Schweigepflicht entstehen, hat die Kirche ihnen und ihrer Familie Schutz und Fürsorge zu gewähren.
§ 31 Amtsverschwiegenheit
( 1 ) Pfarrerinnen und Pfarrer haben über alle Angelegenheiten, die ihnen in Ausübung ihres Dienstes bekannt geworden sind, Verschwiegenheit zu bewahren. Dies gilt nicht für Mitteilungen im dienstlichen Verkehr oder von Tatsachen, die offenkundig sind oder ihrer Bedeutung nach keiner Geheimhaltung bedürfen, sofern nicht ein Vorbehalt ausdrücklich angeordnet oder vereinbart ist. Dies gilt auch über den Bereich eines Dienstherrn hinaus sowie nach Beginn des Ruhestandes und nach Beendigung des Pfarrdienstverhältnisses.
( 2 ) Pfarrerinnen und Pfarrer dürfen über Angelegenheiten, die nach Absatz 1 der Amtsverschwiegenheit unterliegen, ohne Genehmigung weder vor Gericht noch außergerichtlich aussagen oder Erklärungen abgeben. Die Genehmigung kann versagt werden, wenn durch die Aussage besondere kirchliche Interessen gefährdet würden. Hat sich der Vorgang, der den Gegenstand der Äußerung bildet, bei einem früheren Dienstherrn ereignet, darf die Genehmigung nur mit dessen Zustimmung erteilt werden.
Und unter Rechte in Kapitel 3 heißt es u. a.:
§ 47 Recht auf Fürsorge
( 1 ) Pfarrerinnen und Pfarrer haben ein Recht auf Fürsorge für sich und ihre Familie. Sie sind gegen Behinderungen ihres Dienstes und ungerechtfertigte Angriffe auf ihre Person in Schutz zu nehmen.
( 2 ) Geschlecht, Abstammung, Rasse oder ethnische Herkunft dürfen sich bei dem beruflichen Fortkommen nicht nachteilig auswirken.
§ 48 Seelsorge
Pfarrerinnen und Pfarrer haben Anspruch auf seelsorgliche Begleitung.
Es gibt somit nicht nur die seelsorgliche Schweigepflicht. Der Umgang mit Aussagen aus einem Seelsorgegespräch wird zwar durch Entbindung von der Schweigepflicht möglich, bedarf aber gleichwohl sorgfältiger Prüfung und Verantwortung.
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Kirchlicher Arbeitnehmerinnen Tarifvertrag (KAT)11#

Im KAT für privatrechtlich Beschäftigte heißt es in § 4 Schweigepflicht12# lediglich:
( 1 ) Die Arbeitnehmerin hat über alle vertraulichen dienstlichen Angelegenheiten und Vorgänge, die ihr im Rahmen der Tätigkeit zur Kenntnis gelangt sind, auch nach dem Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis, Verschwiegenheit zu wahren.
( 2 ) Die Arbeitnehmerin hat auf Verlangen des Anstellungsträgers dienstliche Unterlagen und Gegenstände herauszugeben.
Wie im Falle von Kindeswohlgefährdung die Spannung von Schweigepflicht und Offenbarungspflicht im staatlichen Recht geregelt ist, wird unten in Abschnitt 11 dargestellt.
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Amtsverschwiegenheit

Sachverhalte, die Pastor/innen außerhalb der Seelsorge im Rahmen der Ausübung ihres Dienstes bekannt werden (z. B. Personalangelegenheiten), sind >vertraulich und unterliegen der Amtsverschwiegenheit. Es muss ein Zusammenhang zur dienstlichen Tätigkeit bestehen, rein private Kenntnisse fallen nicht hierunter. Ausgenommen sind auch öffentlich bekannte („offenkundige“) Tatsachen. Die Amtsverschwiegenheit besteht auch nach Beendigung des aktiven Dienstes fort. Der interne Informationsaustausch („erforderliche Mitteilungen im dienstlichen Verkehr“) verstößt nicht gegen die Amtsverschwiegenheit. Weitere Ausnahmen: siehe >Anzeigepflicht, >Aussagegenehmigung.
Für privatrechtlich Beschäftigte besteht eine vergleichbare Schweigepflicht. In gleicher Weise sind auch die (ehrenamtlichen) Mitglieder des Kirchengemeinderates zur Verschwiegenheit verpflichtet.
§§§ Die Pflicht zur Amtsverschwiegenheit ist für Pastor/innen in § 31 PfDG.EKD geregelt. Die Schweigepflicht der Mitarbeitenden ist in § 4 KAT13# bzw. § 3 Absatz 6 KAVO.MP14# , die Verschwiegenheitspflicht der Kirchengemeinderatsmitglieder in § 18 Absatz 5 KGO geregelt.
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Anzeigepflicht

Es besteht weder im staatlichen Recht noch im kirchlichen Recht eine generelle (beamtenrechtliche) Pflicht zur Anzeige von Straftaten. Die >Amtsverschwiegenheit der Pastor/innen gilt aber kraft Gesetzes nicht für die Anzeige bestimmter Straftaten (Korruptionsstraftaten, Sexualstraftaten) gegenüber einer von der obersten Dienstbehörde benannten Ombudsstelle (§ 31 Absatz 3 PfDG.EKD).
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Aussagegenehmigung

Sachverhalte, die der >Amtsverschwiegenheit unterliegen, begründen gegenüber staatlichen Stellen kein >Zeugnisverweigerungsrecht. Allerdings bedarf eine Aussage der vorherigen Genehmigung durch den Dienstherrn. Diese darf aber nur verwehrt werden, wenn besondere kirchliche Interessen gefährdet würden (§ 31 Absatz 3 PfDG.EKD). Privatrechtlich Beschäftigte brauchen dagegen für eine Aussage keine besondere Genehmigung.
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Beichtgeheimnis

Die förmliche Beichte gilt als Seelsorge. Das Beichtgeheimnis ist daher ein Sonderfall des >Seelsorgegeheimnisses. Während von der Wahrung des Seelsorgegeheimnisses Ausnahmen denkbar sind (z. B. Entbindung von der >seelsorglichen Schweigepflicht) ist das Beichtgeheimnis „unverbrüchlich“ (§ 30 Absatz 1 PfDG.EKD).
Grund der Unverbrüchlichkeit des Beichtgeheimnisses ist der Gedanke, dass die Beichte ein Geschehen zwischen Gott und Mensch ist, zu dem der Seelsorgende lediglich behilflich ist. Was in diesen Zusammenhang eingebracht ist, lässt sich weder rückgängig machen noch für andere Zwecke entnehmen und nutzbar machen.
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Datengeheimnis

Personen, die Umgang mit personenbezogenen Daten haben, sind darüber zur >Verschwiegenheit verpflichtet. Sie sind vor Aufnahme ihrer Tätigkeit auf das Datengeheimnis zu verpflichten. Dies gilt für die haupt- wie für die ehrenamtliche Tätigkeit. Das Datengeheimnis ist regelmäßig schon von der >Amtsverschwiegenheit bzw. dem >Seelsorgegeheimnis erfasst.
§§§ Das Datengeheimnis ist in § 26 Datenschutzgesetz der EKD (DSGEKD) geregelt.
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Seelsorgegeheimnis

Sachverhalte, die einer Pastorin/einem Pastor aus einem Seelsorgegespräch bekannt werden, sind >vertraulich und unterliegen als Seelsorgegeheimnis der >seelsorgerlichen Schweigepflicht. Jede Person, die sich in einem Seelsorgegespräch einer Seelsorgerin/einem Seelsorger anvertraut, muss darauf vertrauen können, dass ohne ihren Willen keine Inhalte Dritten bekannt gemacht werden (§ 2 Absatz 4 Seelsorgegeheimnisgesetz der EKD).
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Seelsorgerliche Schweigepflicht

Zu Wahrung des >Seelsorgegeheimnisses unterliegen Pastor/innen einer besonderen seelsorgerlichen Schweigepflicht. Gleiches gilt für andere Personen, die nach kirchlichem Recht einen besonderen Auftrag zur Seelsorge erhalten haben. Sie sind gesondert auf das Seelsorgegeheimnis zu verpflichten. Von der seelsorgerlichen Schweigepflicht können Seelsorger/innen nur von der Person, die sich anvertraut hat, entbunden werden. Das Seelsorgegeheimnis erfährt nach staatlichem Recht besonderen Schutz durch das >Zeugnisverweigerungsrecht.
§§§ Die seelsorgerliche Schweigepflicht ist für Pastor/innen in § 30 PfDG.EKD geregelt. Für die übrigen Seelsorger/innen ergibt sie sich aus dem Seelsorgegeheimnisgesetz (§ 2 SeelGG.EKD). Pastor/innen sind verpflichtet Nachteile in Kauf zu nehmen, die aus der Pflicht zur Wahrung des Seelsorgegeheimnisses entstehen. Der Dienstherr hat ihnen dabei aber Schutz und Fürsorge zu gewähren (§ 30 Absatz 3 PfDG.EKD).
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Vertraulichkeit/Verschwiegenheit

Eine Information ist vertraulich, wenn nur ein beschränkter Empfängerkreis davon Kenntnis erlangen soll. Zum Schutz bestimmter vertraulicher Informationen bestehen besondere Verschwiegenheitspflichten (> Amtsverschwiegenheit, >Datengeheimnis, >Seelsorgerliche Schweigepflicht).
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Zeugnisverweigerungsrecht

Unter Zeugnisverweigerungsrecht versteht man das Recht einer Zeugin/eines Zeugen, in einem polizeilichen oder gerichtlichen Verfahren gegen Dritte die Aussage vollständig zu verweigern. Das staatliche Recht sieht dieses Recht unter anderem für „Geistliche“ vor, wenn es um Sachverhalte geht, die ihnen bei der Ausübung der Seelsorge („in ihrer Eigenschaft als Seelsorger“) anvertraut wurden oder bekannt geworden sind.
§§§ Das Zeugnisverweigerungsrecht ist in § 383 ZPO (für den Zivilprozess) und in § 53 StPO (für den Strafprozess) geregelt. Ein Zeugnisverweigerungsrecht steht auch anderen Berufsgruppen zu (Ärzte, Psychotherapeuten, Rechtsanwälte). Für diese (nicht aber für Seelsorger!) besteht jedoch kein Zeugnisverweigerungsrecht im Hinblick auf Sexualstraftaten.
„Geistlicher“ ist, wer nach kirchlichem Recht einen besonderen Auftrag zur Seelsorge erhalten hat. Neben den Pastor/innen sind dies nur die haupt- oder ehrenamtlich tätigen Personen, die dazu ausdrücklich einen inhaltlich und zeitlich bestimmten Seelsorgeauftrag erhalten haben. Dieser Auftrag wird durch die Bischöfin/den Bischof oder eine/n vom Bischofsrat dazu beauftragte/n Geistliche/n erteilt (s. u. im Anhang Brief zur Neuregelung). Durch das Zeugnisverweigerungsrecht wird das >Seelsorgegeheimnis besonders geschützt.
§§§ Die besondere Beauftragung mit der Seelsorge ist in § 2 SeelGGErgG (Ergänzungsgesetz zum Seelsorgegeheimnisgesetz der EKD) geregelt.
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Grenzfragen

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5) Zwischen offenen und geschlossenen Räumen –
Seelsorge in der Ortsgemeinde

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Seelsorge im besonderen Raum

Das Kirchengesetz der EKD zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses besagt in § 10: Für die Wahrnehmung des Seelsorgeauftrags können besonders zu diesem Zweck Räume gewidmet werden.
Diese besonderen Räume werden im § 3 des Ergänzungsgesetzes präzisiert: Gewidmete Räume im Sinne des § 10 SeelGG sind insbesondere Räume, die nach dem in der Landeskirche geltenden Recht Pastoren und Pastorinnen als Amtszimmer zugewiesen sind oder Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einer kirchlichen Körperschaft vom Arbeitgeber als Amtszimmer zugewiesen sind…
Ein besonderer Raum wie das Amtszimmer einer Pastorin ist dazu da, die Vertraulichkeit der seelsorglichen Begegnung unter vier Augen zu schützen. Dies stellt sicher, dass alles hier Gesagte und Gehörte nicht an andere Ohren dringt.
Was zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses dienen soll, stellt für manche Menschen jedoch eine hohe Schwelle dar. Ihnen fällt es schwer, den Weg zum Amtszimmer im Pfarrhaus zu nehmen und um ein Seelsorgegespräch zu bitten. Sie versuchen daher, in offeneren Situationen ein Gespräch zu beginnen, in dem sich die seelsorgliche Dimension erst nach und nach entfaltet. Dort können sie allmählich überprüfen, ob sie ihr Vertrauen wirklich der seelsorgenden Person schenken wollen. Das führt manchmal allerdings zu besonderen Schwierigkeiten; einige seien hier benannt.
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Seelsorge in offenen Räumen

Der seelsorgliche Raum ist manchmal nicht durch Mauern begrenzt und mit Türen verschlossen, sondern entsteht als Begegnungsraum: an dem Ort, wo Blick und Hörkontakt eine Verbindung und einen gleichsam intimen Vertrauens-Raum schaffen. Das Zutrauen zur Person eines Seelsorgers ermöglicht es, diesen Raum auch in mehr oder weniger öffentlichen Situationen zu suchen.
Eine Pastorin geht über den Markt und wird von einer Frau angesprochen: „Wie gut, dass ich Sie hier mal treffe…“ Sie beginnt ein Gespräch, das sich bald mit ihrer ehelichen Misere beschäftigt. Die Pastorin zeigt, dass dies ihr nahe geht und verabredet mit dieser Frau, das Gespräch in einem geschützten Raum fortzusetzen.
Es gibt manchmal die Erwartung, dass Seelsorge „mitten im Leben“ stattfinden solle. Während Ärzte und Therapeuten hinter der verschlossenen Tür eines Behandlungszimmers ihr Gespräch beginnen, werden Seelsorgerinnen auch in Alltagssituationen angesprochen. Manche Menschen erwarten, dass die Pastorin sich nicht „einfach nur privat“ in der Öffentlichkeit bewegt, sondern „jederzeit im Dienst“ ist. Und was als eine freundliche Alltagsplauderei beginnt, das kann dann schnell eine Wendung nehmen hin zu Anliegen, die eigentlich eine vertrauliche Behandlung erfordern.
Wie kann, soll und will die Pastorin damit umgehen? Ist sie selber bereit und frei, beim Einkaufen auf dem Markt ein Seelsorgegespräch zu führen? Will sie ihre Privatsphäre schützen oder sieht sie in den Alltagskontakten eine wichtige Dimension ihres Dienstes? Zunächst einmal scheint es in der Alltagssituation einen leichteren Zugang zu geben, der nicht erfordert, mit einem formulierten Anliegen zu bestimmtem Termin ins Amtszimmer zu kommen. Manche Skrupel und Schamgefühle werden so umgangen. Möglicherweise kann einer Seelsorge suchenden Person und dem Ernst ihres Anliegens aber gerade so nicht angemessen begegnet werden, wenn die Unterscheidung von öffentlicher und intimer Gesprächssituation nicht gewahrt wird. Die offene Gesprächssituation ist sehr anfällig für Störungen aller Art, und die Vertraulichkeit ist nur schwer verlässlich zu wahren. Die Seelsorgerin wird deutlich machen müssen, dass hier eine Entscheidung nötig ist. Sie wird der Klientin ermöglichen, auf eine bewusste Weise Verantwortung zu übernehmen für ihr Anliegen, indem sie ihr vorschlägt, das Gespräch an einem geschützten Ort fortzusetzen. Dieser Vorschlag nimmt das Gegenüber ernst und stellt keine Zurückweisung dar.
Eine Mitarbeiterin des Besuchsdienstes macht einen Geburtstagsbesuch. Die Jubilarin hat bereits Besuch von Angehörigen und Nachbarn. Als das Gespräch auf die Erkrankung der Besuchten kommt, stehen dieser Tränen in den Augen, die sie verschämt wegwischt, um die Fassung wieder zu erlangen an der Geburtstagstafel. Die Beauftragte für Besuchsdienst verabschiedet sich und verspricht, in den nächsten Tagen noch einmal vorbei zu kommen.
Gesprächssituationen mit mehreren Beteiligten sind im Allgemeinen schwer zu überschauen und können leicht zu Verunsicherungen führen. Andererseits trifft man sich hier im Wohnzimmer mit vertrauten Personen zu dem privaten Anlass eines Geburtstagsbesuches. Unausgesprochen könnte hier eine gewisse Vertraulichkeit gegeben sein. Aber es ist nicht von vornherein deutlich, inwieweit sich alle Beteiligten auf eine Vertraulichkeit des Gesprächs beziehen und verlassen. Wie soll sich die Mitarbeiterin des Besuchsdienstes da entscheiden? Sie hat keinen anderen Maßstab als den ihrer inneren Resonanz, ihrer Einfühlung in die zu besuchende Person. Und so spürt sie etwas von einem Bedürfnis, die Verletzbarkeit und die Bedrohung durch die Krankheit nicht zum Thema zu machen, obwohl gerade dies die erkrankte Frau sehr bedrängt. Darum entschließt sie sich, das Gespräch an dieser Stelle abzubrechen und in einer Situation fortzusetzen, die einen geschützten Raum ermöglicht.
Die meisten alltäglichen Begegnungen mit mehreren Personen in einem offenen Raum wären überfordert, wenn darin ein Schutzraum für einen seelsorglichen Kontakt entstehen soll. Was in einer seelsorglichen Begegnung eigentlich entlasten und befreien könnte: nämlich dass ausgedrückt werden kann, wofür es sonst nur schwer Worte gibt – das kann hier leicht besondere Angst und Schamgefühle auslösen und jemanden gerade in dem, was ihn existentiell betrifft, vor anderen bloßstellen. Ein seelsorgliches Gespräch mit anderen vertrauten Personen dabei – wie etwa bei einem Geburtstagsbesuch – wird eher die Ausnahme sein.
Die Seelsorgerin wird darauf achten, schrittweise zu markieren, was für die Beteiligten einen geschützten Raum braucht.
Anders ist es für Gruppen, die einen bestimmten – auch seelsorglichen – Auftrag haben. Hier kann es sein, dass sogar die Angst und Schamgefühle selber etwas sind, das Raum und Ausdruck finden darf in einer gesicherten, akzeptierenden und unterstützenden Umgebung.
Die Mitglieder einer Trauer-Selbsthilfegruppe treffen sich am Mittwochabend im Gemeindehaus. Von Zeit zu Zeit kommen neue Mitglieder hinzu. Immer wieder werden alle (auch die „Altgedienten“) darauf verpflichtet, die Verschwiegenheit strikt einzuhalten, um einen Raum des Vertrauens und der gegenseitigen Seelsorge offen zu halten. Alle können sich darauf verlassen, dass das Geteilte absolut vertraulich bleibt.
Es kann solche Seelsorge-Situationen geben mit mehr als vier Augen und Ohren. Das ist ein besonderer Fall, der auch besonderen Schutz braucht. Es ist angezeigt, die gegenseitige Verpflichtung zur seelsorglichen Verschwiegenheit immer wieder einmal zu wiederholen – gerade damit die Freiheit zur seelsorglichen Begegnung gewahrt bleibt. Hier gilt aber auch, dass jede teilnehmende Person Mitverantwortung übernimmt, für sich selbst und die eigenen Grenzen ebenso wie für die andern. Der Gedanke: „Was kann ich den anderen zumuten?“ ist nicht nur erlaubt, sondern geradezu geboten. Auch eine seelsorgliche Gruppe ist kein Ort, an dem man sich einfach bloß naiv anvertrauen könnte, ohne Gedanken, Vertrauens Verletzungen oder Überforderung von Teilnehmenden.
Eine Konfi-Teamerin erlebt, wie eine Konfirmandin in ihrer Gruppe in Tränen ausbricht. Einige Mitkonfirmanden wollen erklären, was da wohl passiert ist. Andere machen große neugierige Ohren, während die weinende Konfirmandin sich immer mehr in ihr Schluchzen zurückzieht. Die Teamerin, die annimmt, dass die Konfirmandengruppe mit einer wirklichen seelsorglichen Dimension überfordert ist, bricht das beginnende Gespräch ab. Sie kündigt an, dass die Gruppenzeit heute eine Viertelstunde kürzer ausfallen wird, weil sie sich dann Zeit für die Konfirmandin nehmen will.
Niemand soll in eine seelsorgliche Situation hinein stolpern oder dazu genötigt werden, „weil es sich eben mal so ergibt“. Die seelsorgliche Begegnung erfordert ein „Ja“ der Beteiligten dazu, dass sie so etwas wie Seelsorge wollen und dafür auf diese Weise auch Verantwortung übernehmen. Diese Verantwortung trägt nicht nur die Person, die die Rolle der Seelsorgenden übernimmt, sondern auch die Person, die sich anvertrauen möchte – auch sie muss sich dafür entscheiden können. Dennoch wird die Seelsorgerin in besonderer Weise darauf achten, dass dies in einem geschützten Rahmen geschieht, in dem Vertrauen nicht enttäuscht oder missbraucht wird.
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6) In einer totalen Institution –
Seelsorge im Gefängnis

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Das Seelsorgegeheimnis als Alleinstellungsmerkmal im Gefängnis

„Herr Pastor, könnten Sie bitte mit dem Gefangenen X reden? Er sitzt in Untersuchungshaft und hat einen Suizidversuch hinter sich. Bei ihm werden sicher noch Einzelheiten seiner Tat zur Sprache kommen – da bin ich nicht der richtige Gesprächspartner. Ich könnte vor Gericht dazu vernommen werden, das will ich nicht. Und Sie müssen ja nicht aussagen.“
Mit dieser Bitte trat ein Psychologe der Justizvollzugsanstalt an mich heran. An diesem kurzen Beispiel wird deutlich, welch hohes Gut das Seelsorgegeheimnis ist.
Das Seelsorgegeheimnis ist DAS Alleinstellungsmerkmal innerhalb des Gefängnisses. Kein bei der Justiz angestellter Sozialarbeiter, Therapeut oder Psychologe unterliegt in der JVA der Schweigepflicht in dem Maße wie „draußen“. Sie alle sind eingebunden in die Vollzugs und Entlassungsplanung. In diesem Zusammenhang werden alle Informationen gesammelt und in der Gefangenenpersonalakte dokumentiert. Diese ist wiederum Grundlage für Lockerungen sowie für externe Gutachten und Berichte an den Richter, der über eine vorzeitige Entlassung entscheidet. Auch in therapeutischen Zusammenhängen bekanntgewordene ungeahndete Straftaten müssen gemeldet werden. Im Detail sind die Regelungen dazu in den einzelnen Bundesländern und wohl auch in den einzelnen Justizvollzugsanstalten unterschiedlich, da die Justizvollzugsgesetzgebung Ländersache ist. Überall gleich ist, dass allein die Anstaltsseelsorgerinnen und -seelsorger dem Seelsorgegeheimnis unterworfen sind und dass allein die seelsorgliche Schweigeplicht durch die gesetzlichen Regelungen in besonderer Weise geschützt wird. Dieser Umstand gibt der Arbeit der Gefängnisseelsorge innerhalb der JVA ein besonderes und einzigartiges Gewicht. Aus diesem Grund beginnen auch viele Gespräche mit Gefangenen mit der Frage: „Sie haben doch Schweigepflicht oder? Sie dürfen, von dem was ich ihnen erzähle, nichts und niemand etwas weiter sagen?“ Gefangene suchen diesen Rahmen der Verschwiegenheit, der einzigartig im Gefängnis ist. Dieser Rahmen eröffnet Chancen zu vertraulichen Gesprächen, wie sie in der JVA, auch unter Gefangenen, nicht möglich sind.
Auch der Umgang mit suizidgefährdeten Menschen innerhalb der JVA ist ein Beispiel für die Bedeutung der seelsorglichen Verschwiegenheit. Offenbart ein Gefangener glaubwürdig Suizidgedanken gegenüber einem Psychologen oder einem Bediensteten der JVA oder hat er bereits einen Versuch unternommen, der gescheitert oder verhindert wurde, wird die „Maschinerie“ des Justizvollzuges in Gang gesetzt. Suizide innerhalb des Strafvollzugs sind der „Supergau“ der Justiz. Allen Verantwortlichen wird dann vorgeworfen, ihre Fürsorgepflicht gegenüber dem Gefangenen nicht wahrgenommen zu haben. Bei Suizidgefahr werden besondere Sicherungsmaßnahmen zur Suizidprävention angeordnet. Diese beinhalten meistens, dass der Gefangene in einen besonderen Haftraum mit fest eingebautem und schwer zerstörbarem Mobiliar verlegt wird. Ihm werden alle Gegenstände abgenommen, mit denen er einen (weiteren) Suizidversuch unternehmen kann (Schnürsenkel, Gürtel, Besteck, alles aus Metall oder Glas, Zigaretten, Feuerzeug usw.). Es wird rund um die Uhr viertelstündlich eine Lebendkontrolle durchgeführt, d. h. auch nachts wird der Gefangene alle 15 Minuten geweckt und angesprochen; er muss zu erkennen geben, dass er lebt. Gespräche mit Psychologen erfolgen weiterhin. Wenn der Gefangene glaubwürdig äußert, keine Suizidabsichten mehr zu hegen, können die Sicherungsmaßnahmen aufgehoben und er wieder in (s)einen normalen Haftraum zurückverlegt werden.
Durch die seelsorgliche Schweigepflicht ist der Gefängnisseelsorger nicht eingebunden in die Berichtspflicht innerhalb der JVA. Aus diesem Grund hat er die Chance, dem Gefangenen, wenn er Suizidabsichten äußert, anders und offener zu begegnen. Dazu muss er grundsätzlich klären, wie er selbst zum Suizid steht, ob die Umsetzung einer Suizidabsicht eines anderen unbedingt verhindert werden muss und in welchem Verhältnis dabei das Handeln des Seelsorgers und das Handeln der Anstalt zu stehen kommen. Es gibt Kollegen, die einen Suizid unbedingt verhindern wollen, und es gibt auf der anderen Seite Kollegen, die meinen, dass ein Suizid, wenn er denn wirklich gewollt ist, nicht zu verhindern ist; er sei das letzte Mittel der menschlichen Freiheit, über sein Leben und Sterben selbst zu bestimmen. Diese Extrempositionen beschreiben den Rahmen, in dem der Seelsorger seine Haltung zum Suizid finden muss. Aus dieser Haltung heraus kann und wird er dem Gefangenen begegnen und mit ihm die geäußerten Gedanken bewegen und reflektieren. Die Wahrung der seelsorglichen Verschwiegenheit bedeutet in diesem Fall für den Seelsorgenden, mit der Gewissenslast zu leben, dass er den Suizid letztendlich nicht mit Sicherheit verhindern kann.
Der Gefängnisseelsorger arbeitet im System Gefängnis, aber durch die seelsorgliche Schweigepflicht ist er nicht wie andere Teil des Systems Gefängnis selbst. Das kann sich auf den Umgang mit den Menschen auswirken.
Die totale Institution Gefängnis prägt die Sicht des Menschen: Der Insasse erscheint nur noch als Gefangener. Grund dafür ist (s)eine Tat, aufgrund derer er zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Mit seiner Inhaftierung wird sein weiteres Leben allein aufgrund dieser seiner Tat gestaltet. Sein Freiheitsentzug, sein Aufenthaltsort, seine Behandlungs- und Therapiemaßnahmen, sein Kontakt zu Freunden und der Familie, sein Stand innerhalb der Gefängnishierarchie haben weitgehend ihren Grund in seiner Tat bzw. dem Urteil, dass über ihn gesprochen wurde. Gefängnis bedeutet Einengung, Verengung und Reduktion in allen Bereichen des Lebens. Auch die Sicht auf den Menschen verändert sich: er wird auf den „Verbrecher“, den „Gefangenen“ reduziert.
Auf der anderen Seite wird auch der Beamte nur eingeschränkt wahrgenommen. Er trägt Uniform und den Schlüssel. Er ist der „Schließer“, der Vertreter und die Symbolfigur des Systems und der Institution des Gefängnisses. Selbst die am Behandlungsvollzug beteiligten therapeutisch oder anderweitig Tätigen werden als Personen oder in ihrem Tun häufig auf ihre Funktion im System Strafvollzug reduziert.
In dieser Situation hat die Seelsorge die Chance und die Aufgabe, den Menschen nicht nur auf diese Weisen reduziert wahrzunehmen, sondern ihn als Ganzes zu sehen: in seinem Familiengeflecht, mit seiner einzigartigen Biographie, mit seiner Ohnmacht, mit seinen Stärken und Schwächen, mit seiner persönlichen Sicht auf seine Tat, mit seinen Schuld und Schamgefühlen, mit seinen Alltagssorgen im Umgang mit den Angehörigen „draußen“ und dem Alltag „drinnen“, und sie kann ihn vielleicht so sehen, wie „Gott ihn gewollt hat“. Die Seelsorge ist bestrebt, den Menschen nicht auf den straffällig gewordenen Gefangenen – oder den „Schließer“ – zu reduzieren, sondern weitet den Blick und „öffnet Horizonte“.
Um dieses zu ermöglichen, braucht es den Rahmen der vertrauensvollen Verschwiegenheit, die Wahrung und den Schutz des Seelsorgegeheimnisses. Wenn, dann gestattet es dieser verlässliche Rahmen den Menschen, die oftmals in ihrem Leben in ungeheurem Maße Beziehungsabbrüche und Vertrauensmissbrauch erlebt haben, sich zu öffnen. In diesem Rahmen können sie sich für die Dauer des Gesprächs dem allumfassenden Zugriff der totalen Institution entziehen.
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Gefährdungen in der Gefängnisseelsorge

Die Verschwiegenheitspflicht birgt aber auch Gefahren und bringt Belastungen mit sich.
Geplante Straftaten:
Eine Last für das Gewissen des Seelsorgenden ist, wenn er von geplanten Straftaten erfährt. In der Diskussion zum Umgang mit solch einer Information innerhalb eines Seelsorgegespräches gibt es wieder sehr unterschiedliche Herangehensweisen. Ein Kollege vertrat die Position: „Wird mir eine geplante schwere Straftat in einem Seelsorgegespräch bekannt und ich kann den Täter nicht davon abbringen, werde ich diese geplante Tat anzeigen, auch wenn ich meinen Job dadurch verlieren werde.“ Die gegensätzliche Position dazu ist die absolute Verschwiegenheit. Die Entscheidung zwischen diesen beiden Polen wird meistens nicht in der hier dargestellten Kürze und Alternativlosigkeit zu fällen sein.
Bei der Konfrontation mit einem Hinweis auf eine geplante Straftat ist es für den Seelsorgenden wichtig zu bedenken, dass diese Offenbarung auch eine Provokation sein könnte: Der Seelsorgende, seine „Belastbarkeit“, seine Grenzen, seine Einstellung zur Verschwiegenheit und seine Vertrauenswürdigkeit sollen getestet werden.
Meistens geschehen solche Offenbarungen innerhalb eines längeren Gesprächsprozesses. Innerhalb dessen besteht die große Herausforderung darin, zu ergründen, welche Motive der Gesprächspartner hat, diese geplante Tat offenzulegen. Oft steht hinter solchen Androhungen von Gewalttaten auch eine Not: Der Gefangene fühlt sich innerhalb des Vollzuges mit seinen Problemen und Anliegen nicht ernst und wahrgenommen. Erst die Androhung von Gewalttaten führt sehr schnell zu einer Aufmerksamkeit und Wahrnehmung durch den Vollzug. Es ist natürlich eine negative Aufmerksamkeit, die sich allein auf seine anhaltende Gefährlichkeit bzw. auf die Bedrohung, die von ihm ausgeht, richtet. Die Chance für den Seelsorgenden besteht darin, mit Ruhe und einer gewissen Gelassenheit hinter die Dinge zu sehen, gemeinsam mit dem Gefangenen nach tieferliegenden Gründen und Motiven zu suchen. Auf diese Weise kann der Gefangene eine für ihn sonst unübliche Aufmerksamkeit erfahren. Er wird in seiner Ganzheitlichkeit wahrgenommen und er kann sich mit dem Seelsorger auf die Suche nach anderen Handlungsmöglichkeiten begeben. Somit bieten sich auch unter Wahrung der seelsorglichen Verschwiegenheit und des Beichtgeheimnisses gute Möglichkeiten, die Tat zu verhindern und mit dem Gefangenen im Kontakt zu bleiben.
Daher ist es die Aufgabe der Seelsorge, zuerst alle Möglichkeiten unter Wahrung des Seelsorge und Beichtgeheimnisses auszuschöpfen. Wenn dies dem Seelsorgenden nicht mehr möglich erscheint, ist es angemessen, über das weitere Vorgehen nachzudenken. Dazu ist es für den Seelsorgenden empfehlenswert, sich selbst Beratung und Unterstützung zu suchen und auch den Dienstvorgesetzten zu informieren und zu Rate zu ziehen.
Instrumentalisierung und Manipulation:
Die Verschwiegenheitspflicht kann auch zur Manipulation oder zur Instrumentalisierung des Seelsorgers führen. Da mit dem Betreten der Anstalt der Seelsorger als Anstaltsseelsorger gesehen wird, unterliegt quasi alles, was mit ihm ab diesem Moment besprochen wird, dem Seelsorgegeheimnis – so oft der unausgesprochene Anspruch. Aus diesem Grund kann die Bitte zur Weiterleitung eines Päckchens oder Briefes von einem Gefangenen an einen anderen Gefangenen oder eine andere Person außerhalb der Anstalt als ein zu wahrendes Seelsorgegeheimnis betrachtet werden. Die Ausführung dieser Bitte kann aber auch die Beteiligung an einer Straftat sein oder dem Schmuggel verbotener Gegenstände dienen. Der Seelsorger wird zum Komplizen oder Ausführungsgehilfen. Der Grund für solche Bitten muss nicht nur die Verschwiegenheitspflicht sein. Der Seelsorger kann auch per se als gut und leichtgläubiger Mensch angesehen werden, „mit dem man es machen kann“. In jedem Fall ist es hier notwendig, ein klares Rollenverständnis zu haben, klar und konsequent Grenzen zu setzen, diese transparent zu machen und offen zu kommunizieren.
Manchmal kommen auch Gefangene mit der Bitte: „Herr Pastor, ich habe demnächst eine Anhörung. Können sie nicht ein gutes Wort für mich einlegen? Sie kennen mich doch viel besser, und wir hatten so gute Gespräche, die mir wirklich geholfen haben. So konnte ich mit niemandem bisher reden. Wenn Sie für mich sprechen, dann erhöhen sich die Chancen für mich und ich werde eher entlassen.“
Natürlich ist die vorzeitige Entlassung ein verständliches Ansinnen. Dieses Anliegen wird auch sehr schmeichelhaft verpackt. Diese Schmeichelei ist aber eher ein Alarmzeichen als Motivation. Wofür soll hier der Seelsorger genutzt werden? Ist das Aufgabe der Seelsorge? Wie viel Vertrauliches muss oder kann der Seelsorgende in einem solchen Verfahren preisgeben? Wie wird er von Seiten der Justiz gesehen – als ein neutraler Fürsprecher oder als einer, der von dem Gefangenen manipuliert und instrumentalisiert wurde? Nutzt das dem Gefangenen oder schadet es ihm? Inwieweit deckt sich das Reden und Handeln des Gefangenen im Bereich der Seelsorge mit dem in den anderen Bereichen des Vollzuges?
Grundsätzlich ist dabei die Frage, inwieweit der Gefängnisseelsorger sich in die Belange des Strafvollzuges einmischt. In manchen Anstalten wird er von Seiten der Verantwortlichen zu solchen Sachverhalten grundsätzlich nicht gehört. In solch einem Fall ist die Entscheidung gefallen. Aber in anderen Fällen liegt die Entscheidung beim Seelsorger und er muss abwägen.
Anschuldigungen und Vorwürfe:
Zur Wahrung des Seelsorgegeheimnisses finden die Gespräche meistens in einem gesonderten Raum, dem Büro des Gefängnisseelsorgers, statt. Das ist ein Umstand, der es leicht macht, den Seelsorger mit An- bzw. Beschuldigungen zu belasten – sowohl von Seiten der Gefangenen als auch von Seiten der Anstalt. Da es für Seelsorgegespräche in solch einem Setting keine Zeugen gibt, sind sehr viele Vorwürfe denkbar: vom Schmuggel verbotener Gegenstände (Handy, Drogen) bis zu sexuellen Übergriffen. Auch die Anschuldigung, der Seelsorger würde die Anstaltsleitung über den Inhalt der Gespräche informieren, kann dazu gehören. Der Wahrheitsgehalt ist auf Grund des Settings oftmals nicht zu ergründen. Es kann durchaus ein Missbrauch mit dem Missbrauchsvorwurf betrieben werden.
Solche Vorwürfe treffen den Seelsorger ins Mark seiner menschlichen und beruflichen Existenz. Dies zeigt aber auch die hohe Verantwortung, die der Seelsorger trägt. Von seiner Seite her kann dieses Setting ebenfalls missbraucht werden. Auch dieser Missbrauch ist schwer nachweisbar. Abgesehen von der persönlichen Verantwortung und Schuld wird durch solches Verhalten die gesamte Seelsorge in Misskredit gebracht.
Gewalttätige Übergriffe:
Gewalttätige Übergriffe oder eine Geiselnahme durch Gefangene stellen eine Gefahr für Leib und Leben u. a. des Seelsorgenden dar. In der Regel genießt der Seelsorger im Gefängnis eine hohe Akzeptanz, die ihn vor solchen Übergriffen schützt. Andererseits könnte er auch gerade deshalb zum Opfer einer Geiselnahme werden; er ist besonders leicht „händelbar“ und will den Tätern nichts „Böses“, „mit dem kann man´s ja machen“.
Von Seiten der Anstalt wird deshalb immer wieder darauf gedrungen, dass auch Seelsorger Personenschutzgeräte tragen. Über diese zigarettenschachtelgroßen Geräte, die am Gürtel getragen werden, kann Alarm ausgelöst werden. Wenn sie in die Waagerechte gebracht werden, lösen sie automatisch Alarm aus. Ebenfalls können sie als Funkgerät benutzt werden. Jeder Beamte im Gefängnis trägt solch ein Gerät. Die Frage des Seelsorgers ist in solch einem Fall oft: „Können Sie garantieren, dass über dieses Gerät die Seelsorgegespräche nicht mitgehört werden?“ Es gibt Anstalten, die das zusichern; aber meist wird „Nein“ die Antwort sein. Deshalb lehnen viele Seelsorger das Tragen dieser Geräte ab. Das Gegenargument eines Anstaltsleiters war einmal: „Ich kann ihnen aber auch nicht garantieren, dass sie nicht über das Telefon ihres Büros abgehört werden. Sie wissen doch selbst, was heute technisch alles möglich ist.“
Fazit: Es gibt keine Sicherheit. Der Seelsorger muss abwägen, welches Risiko er auf sich nimmt.
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Zum Umgang mit Gefahren

Das Seelsorgegeheimnis ist dazu da, der oder dem Seelsorge Suchenden – sei es den Gefangenen, sei es den im Strafvollzug Tätigen – einen geschützten Raum des Vertrauen-Könnens zu eröffnen. Deshalb wird die Seelsorgerin oder der Seelsorger im Gefängnis alles tun, um diesen seelsorglichen Schutzraum zu wahren und auch weiterhin zu erhalten. Jeder Bruch des Seelsorgegeheimnisses – selbst wenn er in bester Absicht erfolgt – bedeutet in aller Regel, dass die seelsorgliche Tätigkeit im Strafvollzug keine Fortsetzung finden kann.
Wie jedoch ist mit den genannten Konfliktfällen umzugehen? Zumeist stehen hier verschiedene Güter gegeneinander: der Schutz des Lebens des sich seelsorglich Anvertrauenden und der Schutz seelsorglicher Verschwiegenheit, der Schutz anderer vor Gefahr an Leib und Leben und der Schutz des seelsorglichen Gesprächsraums, der Schutz der eigenen Person vor Gefahren und der Schutz der Seelsorge gegenüber Verletzungen der Vertraulichkeit.
In diesen Konfliktlagen geht es zunächst um eine Abwägung zwischen verschiedenen Verantwortlichkeiten, nicht selten auch um die Frage, ob und wie beiden Schutzgütern gerecht zu werden ist. In dieser Dilemma-Situation ist es für die Seelsorgerin oder den Seelsorger wichtig zu wissen, dass bei Gefahr für Leib und Leben im Gegensatz zur Seelsorge andere Berufsgruppen im Gefängnis sogar eine Offenbarungspflicht haben. Je genauer die Seelsorgerin oder der Seelsorger die jeweilige Verantwortung für sich geklärt hat, desto klarer und transparenter ist sie oder er auch in der Lage, in der konkreten Situation Wege zu finden.
Dazu gehören zunächst Wege in der Seelsorge-Situation mit dem jeweiligen Gegenüber selbst: Wie wichtig es ist, in solchen Situationen, den tieferliegenden Motiven des Gefangenen auf die Spur zu kommen und ihm auf diese Weise anders, als er das erwartet hat, gerecht zu werden, wurde oben bereits dargestellt. Sodann: Kein Seelsorger ist aufgrund der Seelsorge-Situation verpflichtet, sich in etwas hineinziehen, zu etwas verleiten oder korrumpieren zu lassen. Im Gegenteil: zur Seelsorge kann auch gehören, in aller Klarheit zurechtzurücken, was verantwortlich und was unverantwortlich ist. Auf bestimmte Gefangenen-Informationen hin kann die geeignete Antwort auch eine beherzte Konfrontation sein, was nun zur Wahrnehmung eigener Verantwortung gehört: „Zur Seelsorge gehört, Leben zu schützen. Genauso wie es um den Schutz ihres Lebens geht, egal was passiert ist, so ist, egal was passiert ist, auch das Leben anderer zu schützen. Sind Sie sich klar darüber, dass gehandelt werden muss, damit NN nichts passiert?“
Auf diese Weise kann der weitere Umgang mit dem Seelsorgegeheimnis im Seelsorgegespräch selbst zum Thema werden, und beide Partner sind herausgefordert beizutragen, was in ihrer Verantwortung steht. Dazu kann im Letzten auch gehören, die Seelsorge-Situation zu beenden, gewissermaßen hinter den Kontrakt zurückzugehen, der jede Seelsorge-Situation konstituiert und im Gespräch die Voraussetzungen zu klären, um von beiden Seiten her konkret zur Seelsorge bereit zu sein. Denn selbst in einer totalen Institution darf auch die Person des Seelsorgers nicht auf seine seelsorgliche Funktion reduziert werden.
Doch soweit muss es nicht kommen. Viele Gefangene achten und akzeptieren letztlich, dass die Seelsorge auf die Verhinderung einer Straftat aus sein muss, und sie wissen darum, dass nicht nur andere Gefangene oder Bedienstete, sondern auch sie selbst potenzielle Opfer sein können.
Es kann auch ein Weg sein, unabhängig von der konkreten Situation in der JVA allgemein Hinweise zu geben und so die seelsorgliche Verschwiegenheit zu wahren.
– Natürlich ist all das kein Schutz vor Instrumentalisierung und erst recht nicht eine Antwort auf alle Dilemmata. Aber es bleibt wichtig, vom Bruch des Seelsorgegeheimnisses den beiderseitigen verantwortlichen Umgang mit Vertrauen und Verantwortung zu unterscheiden – selbst im Gefängnis.
Darüber hinaus besteht für die Seelsorgerin oder den Seelsorger die Möglichkeit, sich zu beraten, sei es im Rahmen von Supervision, sei es mit der oder dem kirchlichen Dienstvorgesetzten, sei es durch Einholung von rechtlichem Rat. Im Fall von Gefahr im Verzug wird dies sehr schnell erfolgen müssen.
Das kirchliche Recht ist darauf gerichtet, die Wahrnehmung des kirchlichen Auftrags in der Seelsorge zu schützen. Dazu gehört auch, im Konfliktfall in Wahrnehmung der personbezogenen Fürsorgepflicht Rechtsbeistand zu gewähren.
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7) Unter begrenztem Schutz –
Seelsorge in digitaler Kommunikation

Zunehmend werden in den letzten Jahren – nicht nur unter jüngeren Menschen – digitale Medien zur Kommunikation genutzt. Ob Email, SMS, WhatsApp oder Facebook und viele andere: hier werden alle Themen angesprochen und miteinander besprochen, die Menschen bewegen. Also auch die Themen, die in der Seelsorge vorkommen. Mitunter wenden sich Menschen auch direkt und ausdrücklich mit seelsorglichen und/oder therapeutischen Anliegen an Menschen und Einrichtungen, von denen sie sich entsprechende Unterstützung erwarten.
Einer der wesentlichen Unterschiede zum persönlichen direkten Gespräch im womöglich besonders geschützten Amtszimmer oder Beratungsraum besteht darin, dass im Prinzip jede digitale Kommunikation Spuren hinterlässt und potentiell aufgezeichnet wird. Das machen sich Ratsuchende oft allein deshalb nicht klar, da sie ja meist allein vor ihrem Rechner sitzen, wenn sie die Anfrage starten. Wenn das dann auch noch der PC am Arbeitsplatz ist – statistisch kommen die meisten Anfragen an das besonders geschützte Beratungsportal der Ev. Konferenz für Familien und Lebensberatung während der Arbeitszeit an! – ist sowohl der Zugriff innerhalb der Firma als auch an vielen Stellen bei Übertragung und Speicherung möglich. Auch auf dem heimischen PC haben häufig andere Familienmitglieder Zugang zu Mails und den Inhalten.
Es ist deshalb schwierig und aufwändig, die Vertraulichkeit der Seelsorge bei digitalen Kommunikationswegen verlässlich zu schützen! Meist wird das hundertprozentig nicht möglich sein.
Wenn Seelsorge in digitaler Kommunikation dennoch stattfinden soll, ist es empfehlenswert, mindestens verschlüsselte Übertragungswege zu nutzen. Das bieten viele Provider – auch Chatprogramme – inzwischen an.
Darüber hinaus sollten nur besonders gesicherte Rechner genutzt und die Inhalte auch nur verschlüsselt gespeichert werden. Auch dafür gibt es (schon lange) Programme. Sie erfordern allerdings ein bisschen Einarbeitung (z. B. PGP – „pretty good privacy“). Leider werden sie deshalb zu wenig genutzt.
Zurzeit verfügt die Diakonie Deutschland über ein Beratungstool, mit dem vor allem evangelische psychologische Beratungsstellen arbeiten. Es soll weiterentwickelt und aktualisiert werden. Und die Seelsorgeeinrichtungen von Diakonie und Kirche sollten darauf dringen, dass dies baldmöglichst breit zur Verfügung gestellt werden kann.
Zur schriftlichen Kommunikation auf digitalem Wege lassen sich einige Empfehlungen geben:
  • Es empfiehlt es sich, digitale Kommunikationswege für die Erstkontakte und organisatorische Fragen zu nutzen und damit zum persönlichen und vertraulichen Gespräch einzuladen.
  • Bei seelsorglichen Anfragen sollte bei der jeweiligen Antwort auch regelhaft der vorherige Verlauf aus der Mail gelöscht werden (inkl. Papierkorb). Außerdem sollte auch regelhaft in der Antwortmail darauf hingewiesen werden, dass die hundertprozentige Vertraulichkeit im Mailverkehr nicht garantiert ist. Das gilt umso mehr, wenn Sie Gespräche im Grenzbereich von Coaching und Seelsorge führen, dies protokollieren und als Mailanhang mit versenden.
  • Sollten Sie Gespräche auf einem Tablet protokollieren, so beachten Sie bitte: Datenstifte sind via Schnittstelle mit der entsprechenden App verknüpft. Diese Schnittstellen sind insbesondere bei Android-Geräten nicht absolut sicher. Die digitale Ablage auf Tablets ist ungeeignet.
Auch für das personale seelsorgliche Gespräch sind Empfehlungen zu geben. Denn das persönliche Gespräch garantiert längst nicht mehr einen gänzlich geschützten Rahmen. Mobile Geräte sind mit mehreren Richtmikrofonen ausgestattet; befinden sich diese Geräte im Raum, sollten Sie Folgendes beachten:
  • Insbesondere wenn Apps nicht ausnahmslos sorgfältig eingestellt sind, hört Ihr Gerät bzw. die entsprechende App u. U. mit. Apps selektieren und verknüpfen immer besser Schlüsselbegriffe, zu denen auch Namen (von Dritten) gehören. Manche App-Kombinationen (z. B. Facebook und Spotify auf einem Gerät etc.) sind besonders anfällig.
  • Das bedeutet: Das vermeintlich geschützte, persönliche Gespräch übermittelt im ungünstigen Fall mehr sensible Informationen als ein begrenzter verschlüsselter Chat. Schalten Sie im Zweifel alle mobilen Geräte im Raum aus und bitten Sie auch Gesprächspartner/innen darum.
Es bleibt abzuwägen: Es gibt Situationen, wo Seelsorge nur in digitaler Kommunikation überhaupt möglich wird. Doch die Möglichkeit zum persönlichen Gespräch kann dem Seelsorgegeheimnis allemal besser gerecht werden.
Informationen zum Thema finden Sie auch hier:
www.socialmediaguidelines.nordkirche.de .
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8) Als Partnerin im Team –
Seelsorge in Palliative Care

Seelsorgende genießen durch ihre kirchliche Anstellungsträgerschaft und Beauftragung eine große äußere und innere Unabhängigkeit in Krankenhäusern. (Ausnahmen bilden Seelsorgende, die von z. B. diakonischen, evangelischen oder caritativen, katholischen Krankenhäusern oder Trägergesellschaften direkt angestellt sind.) Trotzdem gelten sie im Alltag häufig mehr oder weniger als Teil der Behandlungsteams.
Besonders gilt dies für Palliativ-Care-Teams, in denen Mitarbeitende verschiedener Profession zusammenarbeiten, um dem Patienten die begrenzte Zeit zum Sterben so angenehm wie möglich zu gestalten. Hier muss die seelsorgliche Verschwiegenheit mit der Doppelrolle von externer Beauftragung und faktischer Mitarbeit im Team und in den Gremien in Beziehung gesetzt werden.
Palliativmedizin hat aus ihrem eigenen Selbstverständnis heraus einen eigenen Zugang zu spirituellen Fragen. Nach der gängigen Definition der WHO gehören spirituelle Fragen zu einer wesentlichen Säule der Palliativmedizin. Das muss nicht unbedingt auf kirchliche Seelsorge hinauslaufen, in der Regel übernehmen gegenwärtig kirchlich entsandte Seelsorgende die Rolle der sich den spirituellen Fragen Zuwendenden in den Krankenhäusern. Es steht zu erwarten, dass zukünftig auch andere, z. B. muslimische Seelsorgende in der palliativen Betreuung mit wirken, d. h. an den wöchentlichen Teamsitzungen teilnehmen und an den Fallberatungen mitarbeiten werden. Schließlich hat die spirituelle Begleitung auch Eingang in die Abrechnungsverfahren der Krankenhäuser Eingang gefunden.
Wie verhält es sich mit der Verschwiegenheit in diesem Dreieck: Kirchlicher Auftrag mit seinen ethischen Normen, Rolle der Seelsorgenden im Krankenhaus allgemein und Mitarbeit in der Palliativmedizin mit der ihr eigenen Bedeutung von Spiritualität?
Neben diesen grundsätzlichen Fragen zeigt ein Blick in die Praxis, dass hier mit einigen Unschärfen zu rechnen sind. Natürlich gibt es Sachinformationen, die der absoluten Verschwiegenheit unterliegen, z. B. einzig den Seelsorgenden anvertraute Konflikte mit Angehörigen, Aspekte der eigenen Lebensgeschichte. Aber wie verhält es sich mit allgemeinen Eindrücken, die sich z. B. in Übertragungsund Gegenübertragungsreaktionen niederschlagen? Wie verhält es sich mit jenen Einschätzungen in Bezug auf Kenntnis und Haltung von Patienten und Angehörigen zum jeweiligen Krankheitsstand? Hier geht es um Fragen der Realitätseinsicht, die oftmals Voraussetzung für wegweisende Entscheidungen sind. Spielt z. B. die Frage, ob ein Patient oder die Angehörigen über die Realität einer terminalen Erkrankungsphase im Klaren sind, eine große Rolle bei einer anstehenden Verlegung vom Krankenhaus in ein Hospiz?
Angesichts dieser fließenden Grenzen können Kriterien für eine Differenzierung und einen sorgfältigen Umgang weiterhelfen. In dem Diskussionspapier der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP) von Michael Coors, Dorothee Hart, Dietgard Demetriades: „Das Beicht- und Seelsorgegeheimnis im Kontext der Palliativversorgung“ (in: Wege zum Menschen 66 (2014), Heft 1, S. 91 – 98) werden verschiedene Unterscheidungen aufgeführt: Zunächst einmal werden Pflichten und Rechte unterschieden, die der Staat bzw. die die Kirchen auferlegen. Dann werden das Beicht- und das Seelsorgegeheimnis unterschieden. Beichte wird als Prozess des Beichtenden mit Gott verstanden, bei dem es um ein Sündenbekenntnis und die Vergebungszusage geht, hier gilt die Verschwiegenheit als unverbrüchlich. Davon wird Seelsorge als „Gespräch im Bewusstsein der Gegenwart Gottes“ unterschieden. Drittens wird die Frage nach der (mündlichen) Mitarbeit in der Fallberatung und der (schriftlichen) Dokumentierung unterschieden. Für die Weitergabe wird festgehalten: „Alles, was Dritten ohnehin bekannt ist“, darf dokumentiert werden, außerdem jene Informationen, die als Wunsch an das Behandlungsteam gelten können. Schließlich sollte eine Offenlegung mit dem Patienten selbst besprochen werden, damit die Seelsorgenden von der Verschwiegenheit befreit werden können.
Berücksichtigt werden sollte auch, inwieweit es Regelungen in Behandlungsverträgen gibt, die explizit die Mitarbeit von Seelsorgenden in Behandlungsteams benennen. Dies könnte z. B. in konfessionellen Krankenhäusern der Fall sein, in denen die Mitarbeit von Seelsorgenden häufig ohnehin in einem eigenen institutionellen Rahmen erfolgt. Auch unter diesen Rahmenbedingungen sind die o. g. Unterscheidungen wichtig.
Dennoch bleibt eine letzte Verantwortung bei den Seelsorgenden, wie sie mit diesen Differenzierungen im Einzelfall umgehen. Bei allen Regelungen, seien sie juristischer oder anderer Art, wird eine letzte Offenheit bleiben. Für ein Seelsorgegespräch sollte von außen nicht im letzten alles regelbar sein. So wird es der Verantwortung der Einzelnen obliegen, angesichts der Verantwortung für den Schutz des Seelsorgegesprächs einen angemessenen Umgang zu finden. Und die jeweils Verantwortlichen sollten ausreichend Vertrauen in die Akteure in den jeweiligen Arbeitsfeldern mitbringen und sie in ihrer Haltung zu fördern suchen, diese Verantwortung ausfüllen zu können.
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Verantwortung

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9) Missbrauchtes Seelsorgegeheimnis

Am falschen Gebrauch wird erst recht klar, wie verletzbar und kostbar das Seelsorgegeheimnis ist. Das Seelsorgegeheimnis kann um seinen Sinn gebracht und in sein Gegenteil verkehrt werden.
Im Falle von Übergriffigkeit, Grenzverletzungen und sexuellem Missbrauch wird durch einseitige Interessen, Ausnutzung eines Machtgefälles und Herstellung von Abhängigkeit der Schutzraum der Seelsorge in sein Gegenteil verkehrt. An die Stelle des offenen Angebotes treten arglistige Täuschung und die gezielte Durchsetzung eigener Interessen und Instinkte. Das Gefälle wird ausgenutzt und das Gegenüber gezielt gefügig und abhängig gemacht und erniedrigt. Die Abschirmung, die doch dem Schutz des Seelsorgegeheimnisses dienen soll, wird ausgenutzt, um, was Freiraum zur Seelsorge sein soll, in sein Gegenteil zu verkehren.
Und es kommt noch Schlimmes hinzu: Die seelsorgliche Verschwiegenheit wird verkehrt in ein Schweigegebot, mit dem die betroffene Person weiter in Isolation getrieben und geradezu versklavt wird. Die erfahrene Grenzüberschreitung ist für den Betroffenen in hohem Maße mit Scham verbunden und wird damit zu einem Gefängnis, aus dem es kaum noch ein Entrinnen gibt.
Es ist diese verkehrte Welt, von dem Täter oder der Täterin gezielt hergestellt, die zu denken gibt: Wie ist eine derartige Ausnutzung geschlossener Räume zu verhindern, wo Seelsorge doch auf sie angewiesen ist? Müssen die äußeren Rahmenbedingungen zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses immer mit dem Risiko verbunden sein, möglichen Tätern zur Gelegenheit zu werden?
Wie sind versklavendes Schweigegebot und heilsames Seelsorgegeheimnis voneinander zu unterscheiden?
Sehr knapp zusammengefasst lassen sich folgende Erkenntnisse formulieren:
  1. Gegenüber den genannten Risiken zum Missbrauch ist absolute Sicherheit nicht herstellbar. Umso wichtiger sind Vorkehrungen zur Prävention in allen Gemeinden und Einrichtungen und Strukturen für konsequentes Eingreifen, wenn es erforderlich ist.
  2. Zur Prävention in der Seelsorge gehört die Ausprägung einer professionellen seelsorglichen Haltung (s. o. Abschnitt 3).
  3. Zur Intervention ist vor allem konsequentes Vorgehen erforderlich, das vorrangig dem Schutz möglicher Betroffener gilt (s. u. Abschnitte 10 bis 12).
  4. Gegenüber möglichen eigenen Grenzüberschreitungen bieten Supervision und kollegiale Intervision wichtige Räume zu kritischer Auseinandersetzung.
  5. Das Wissen um und die wiederholte Reflexion von Gefährdungen und Täterstrukturen stellt den besten Schutz dar.
Wie inmitten der durch Grenzüberschreitungen und sexualisierte Gewalt aufgeworfenen Konflikte der Raum der Seelsorge zu nutzen und mit dem Seelsorgegeheimnis umzugehen ist, dem wird in den folgenden Abschnitten nachgegangen.
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10) Grenzen achten

Es gibt Grenzen. Das ist die Realität. In unserer Kultur mag die Grenze einen negativen Klang haben und soll, wenn möglich, überschritten werden. Im Kontext von Seelsorge hat die Grenze dagegen etwas Konstitutives: Sie setzt den Rahmen für einen geschützten Raum, in dem sich in einem Gespräch zwischen zwei Menschen etwas kreativ entfalten kann, das vorher keinen Raum hatte. Dieser Raum existiert nur, insofern es die Grenze gibt. Indem ich die Grenze definiere, entsteht etwas: nämlich ein Raum, in dem man sich bewegen kann und sich gleichzeitig gehalten weiß, die Möglichkeit eines seelsorglichen Kontaktes. Der Raum ist gesichert durch Regelungen und Gebote: Ein bestimmter Ort, eine bestimmte Zeit, Verschwiegenheit, bestimmte Verhaltensregeln etc. Der/die Seelsorgende setzt diese Grenzen, sorgt dafür, dass der Raum darin geschützt bleibt, schließt aus, was nicht hineingehört (Geld, Sex, Unbefugte, die dabei sein wollen etc.).
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Grenzen definieren

Manchen Seelsorgenden fällt es schwer, in der Seelsorge Grenzen zu setzen und damit das „Setting“ zu bestimmen und zu „verteidigen“. Sie denken bei Seelsorge an einen offenen Raum, in dem alles möglich sein sollte. Dann kommt es zuweilen vor, dass sie sich benutzt oder ausgenutzt fühlen, für fremde Interessen eingespannt oder dazu verführt, etwas zuzulassen, was sie eigentlich nicht sinnvoll finden (das Gespräch unter Alkoholeinfluss des Ratsuchenden führen, das Gespräch über Stunden ausdehnen, das Gespräch von Familienmitgliedern oder dem Fernseher stören lassen u. a.).
Wenn es eine Frage des Mutes ist, ob man als Seelsorgerin eine Grenze setzen darf, dann scheint es eine Art Anspruch zu geben, vor dem man sich rechtfertigen muss. Und dieser Anspruch scheint in irgendeiner Weise zu formulieren, dass Grenzsetzungen etwas Ungutes seien. Wie oben zu sehen war, stimmt das nicht. Dieser Anspruch sorgt eher dafür, dass heilsame Grenzen überschritten und verletzt werden, was wiederum die Qualität des seelsorglichen Tuns angreift. Insofern gilt: Ein reflektierter Umgang mit Grenzen gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen seelsorglichen Tuns.
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Sich abgrenzen

Es hat sich in Supervision und Fortbildung als ausgesprochen hilfreich erwiesen, die „primäre Aufgabe“ von Seelsorge zu bestimmen. Das bedeutet auch, recht genau zu sagen, was Seelsorge nicht ist, und sich dem gegenüber dann abzugrenzen. Das ist nicht leicht, denn die im Folgenden angesprochenen Tätigkeiten, die eigentlich etwas anderes als Seelsorge sind, sind durchaus starke Versuchungen:
Seelsorge ist nicht Helfen im diakonischen Sinne. Sie ist ein Gespräch. Seelsorge ist nicht Verkündigung, jedenfalls nicht primär. Sie ist nicht Lehre; es soll der Anderen nicht etwas beigebracht werden. Seelsorge ist kein Ritual, aber ein Ritual kann sich anschließen. Seelsorge ist kein ergebnisorientiertes Tun – es kommt kein Produkt dabei heraus; aber Seelsorge bleibt nicht ohne Folgen. Seelsorge ist eher ein Prozess zwischen zwei Menschen, die miteinander in emotionalen Kontakt kommen und sich auf einen gemeinsamen Prozess einlassen, von dem sie nicht wissen, was dabei herauskommt. Dabei geht es um die Fragen des einen und das Sich-zur-Verfügung-Stellen der Anderen. Im Seelsorgegespräch ist es nötig, sich abzugrenzen gegenüber dem Wunsch des Anderen, sein Problem für ihn lösen zu können, aber auch gegenüber dem eigenen Wunsch, Retter in der Not zu sein.
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Sich selbst Grenzen setzen

In der Seelsorge geht es weniger um Tatsachen als um subjektives Erleben. Nicht die objektive, sondern die subjektive Wahrheit eines Menschen ist von Belang. Wahrheit ist etwas anderes als Wissen: Ein Seelsorger gibt keine Ratschläge, weil kein Mensch wissen kann, was für einen Anderen gut ist. Ratschläge schließen die Offenheit des Prozesses ab. In der Seelsorge ist die beste Kompetenz dagegen das Nichtwissen und eine gewisse Toleranz für Verunsicherung. Weil ich dann offen bin dafür, noch einmal ganz neu hinzuschauen und nicht in allem, was der Andere sagt, doch nur finde, was ich schon kenne: Denn was ich kenne, sind meine Erfahrungen und nicht seine. An dieser Stelle geht es darum, dem eigenen Drang eine Grenze zu setzen, etwas vermeintlich schnell zu verstehen, indem man die Fremdheit des Anderen auf das reduziert, was einem vertraut ist, um damit Unsicherheit und Ratlosigkeit zu vermeiden.
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Grenzen überwinden

Ein anderer Mensch bleibt immer ein Geheimnis. Auch wir selbst sind uns weitgehend ein Geheimnis, weil das meiste von dem, was wir tun und fühlen, nicht bewusst von uns gesteuert wird. Es geschieht wie von selbst; wir tun etwas, das wir eigentlich nicht verstehen, so wie wir nicht wissen, wie unser Körper das Gehen oder die Verdauung eigentlich zustande bringt. Wir bringen es auf einen Punkt, indem wir sagen: In der Seelsorge geht es primär um Verstehen von etwas Unverständlichem, etwas Erschütterndem, etwas schwer Erträglichen, das oftmals von außen kommt, aber oftmals auch von innen. Damit möchte man am liebsten nichts zu tun haben; deshalb geht es hier darum, eine (innere) Grenze zu überwinden und sich trotzdem zuzuwenden.
Aber was ist Verstehen? Wer einen andern Menschen verstehen möchte, braucht eine Einfühlung in ihn, braucht aber auch einen Abstand, um besser sehen zu können und einen Überblick zu behalten. Er oder sie muss also einerseits eintauchen in das vom Gegenüber Erzählte und andererseits wieder zurücktreten und auf das schauen, was sich zwischen beiden im gemeinsamen Gesprächsraum ereignet. Es geht nicht nur um Nähe; Nähe an sich ist nicht unbedingt förderlich, und was mir zu nah ist, das kann ich nicht gut sehen – es geht vielmehr um ein Spiel zwischen Nähe und Distanz, der einen Spiel-Raum schafft. Daher ist es manchmal notwendig, gegenüber dem beiderseitigen Wunsch nach Nähe eine Grenze zu setzen.
Verstehen bedeutet, Dinge zu verknüpfen und so einen Sinn zugänglich zu machen. Die Ebenen, die miteinander verknüpft werden können, sind: Der Inhalt des Gesprochenen, die Art und Weise, wie dies gesagt wird, und die Interaktionsform, die sich zwischen der Ratsuchenden und der Seelsorgenden einspielt. Verstehen im psychodynamischen Sinn ist szenisches Verstehen; es achtet auf das, was sich in Szene setzt, inszeniert. Im gemeinsamen Fragen, Nachspüren, Formulierungen Versuchen kann sich ein Sinn einstellen – zwischen den beiden: Wenn etwas zwischen ihnen auftaucht, aufleuchtet, einleuchtet, dann hat man nicht nur über etwas geredet, sondern es ist etwas geschehen. Eine Art Verwandlung hat stattgefunden. Eine gemeinsame Schöpfung.
So etwas ereignet sich nur, wenn die Seelsorgende zwar sehr einfühlsam, aber auch relativ unabhängig von ihrem Gegenüber ist.
Einfühlung und Distanzierung, Nähe und Abstand sind in ihrem Zusammenspiel bedeutsam.
Wenn der Seelsorger einfach tut, was von ihm erwartet oder erwünscht wird, oder wozu er vom Gegenüber verführt wird, kann nichts Neues entstehen. Denn die Erwartungen der Ratsuchenden kommen aus dem Zusammenhang, der ihr zu einem Problem geworden ist. Sie wird versuchen, mit der Seelsorgerin eine Art von Interaktion zu inszenieren, wie sie das sonst mit andern Menschen vermutlich auch tut, eine Wiederholung. Wenn aber der Seelsorger dies bemerkt, nämlich, dass er gerade in eine Szene verwickelt wird, dann kann er versuchen, von einer dritten Position aus auf die gemeinsame Szene zu schauen. So gelangt er in einen Verstehensprozess. Er kann seine Einsicht – zum geeigneten Zeitpunkt – zur Sprache bringen und dann schauen, ob das Gegenüber sich selbst und das eigene Leben dadurch auf eine andere Weise anschauen kann als bisher und eine neue Perspektive auf das Eigene bekommt.
Die Seelsorgerin ist ein Gegenüber, und eigentlich sind Seelsorgerin und Ratsuchende zu Dritt. Der Seelsorger braucht die Vorstellung einer dritten Position, die er zwischenzeitlich einnehmen kann. Manchmal kann dieses Dritte der Blick Gottes sein, den die Seelsorgerin sich vorstellt; ein theoretischer Bezugsrahmen kann auch so etwas wie eine externe Vergewisserung sein, die der Seelsorgerin hilft, einen klaren Blick zu behalten. Sonst können die beiden leicht ineinander versinken, sich verbünden oder miteinander verwickeln und nicht wieder herausfinden. Verwicklungen geschehen immer wieder, denn Ratsuchende versuchen ihr Gegenüber dazu zu verführen, ihnen Recht zu geben, sich auf ihre Seite zu stellen, Schlimmes nicht so schlimm zu finden, Enttäuschungen zu vermeiden und sich nicht verändern zu müssen. Das ist sehr menschlich. Es ist aber wichtig, solche Erfahrungen von Verwicklung nicht schlimm zu finden, sondern zu bemerken und zu nutzen, um besser verstehen zu können, was das Leid des Anderen ist.
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Ein Paradox: Konfrontieren und Grenzen respektieren

Eine Seelsorgende wird solche Wünsche ihres Gegenübers, die meist nicht bewusst sind, dem Anderen nicht zum Vorwurf machen, was ihn beschämen würde. Aber sie wird den Wünschen auch nicht einfach Folge leisten – sofern sie sie in dem Moment schon bewusst wahrnimmt. Sie wird verständnisvoll aber klar eine Grenze setzen. Oder sie wird ihr Gegenüber behutsam konfrontieren mit etwas, das er oder sie noch nicht wahrgenommen hatte.
Jeder Mensch hat blinde Flecken. Niemand möchte sich freiwillig verändern. Wir suchen nach Wegen und Wahrheiten, die uns nicht allzu sehr in Frage stellen.
Wir versuchen, dem Schmerz auszuweichen. Nicht selten haben Menschen ein illusionäres Bild von sich selbst oder von dem, was in einer Beziehung möglich wäre. In schlimmen Situationen macht man sich etwas vor oder hat eine verzerrte Weltsicht. Ein Mann versucht, den Seelsorger davon zu überzeugen, dass nur seine Frau schuld an seinem Elend sei. Als Gegenüber wird der Seelsorger sich in solche Perspektiven nicht hineinziehen lassen; er wird klare Rückmeldung geben, wie er den Anderen erlebt; er wird sortieren, wird ordnen; er wird die Realität in ihrer Ambivalenz und ihrer Härte zur Sprache bringen. Denn die Anerkennung dessen, was ist, ist der Ausgangspunkt für jeden Weg, der ins Freie führt. Weil aber nicht immer so klar ist, was ist oder was wahr ist oder was Illusion ist für einen Menschen, wird man gemeinsam darum ringen müssen. Die Voraussetzung dafür ist oftmals eine beherzte Konfrontation, weil ohne sie keine Auseinandersetzung in Gang kommen würde.
Sich auf diese Weise zuzumuten birgt ein Risiko: Ich kann als Seelsorgerin auch falsch liegen und dem Andern Unrecht getan haben mit einer Äußerung. Dieses Risiko muss ein Seelsorger auf sich nehmen. Indem er um diese Möglichkeit weiß, wird er sein Gegenüber mit der Konfrontation nicht festnageln, denn es geht ihm nicht darum, Recht zu haben. Er wird Grenzen offen halten und Spielräume ermöglichen.
Sollte er an der Reaktion des Anderen allerdings bemerken, dass es dort absolut keinen Spielraum gibt, dass die Realität gar nicht ausgehalten werden kann, dass die Konfrontation weder fruchtbar gemacht noch abgewiesen oder zurechtgerückt werden kann vom Anderen, dann wäre die Frage zu stellen, ob es sich vielleicht um eine Sache handelt, die therapeutisch bearbeitet und von der Seelsorge in professionelle psychologische Hände weiter verwiesen werden sollte.
Die Grenze des Gegenübers ist zu respektieren: Die Schamgrenze, die Grenze des Erträglichen, die sich als Widerstand in mancherlei Form äußern kann. Widerstand und Abwehr sind Schutzmechanismen, die einen Sinn haben; sie schützen etwas Verletzliches vor Übergriffen und sollten daher unbedingt respektiert werden, auch dann, wenn man sie nicht nachvollziehen kann.
Die Seelsorgerin braucht eine gewisse innere Unabhängigkeit, um ein hilfreiches Gegenüber zu sein. Sie muss ihre Konfrontation auch zurücknehmen können. Sie muss einen inneren Spielraum haben und nicht immer sofort reagieren. Das ist vor allem dann wichtig, wenn man sich als Seelsorgerin abgelehnt, angeklagt oder angegriffen fühlt. Dann gibt es die Herausforderung, nicht zurückzuschlagen, sich nicht zu verteidigen und sich nicht gekränkt zurückzuziehen, sondern zu bleiben und dem eine Weile standzuhalten, denn ein Kampf würde nicht weiter führen.
Das ist möglich, wenn man die empfundene Ablehnung nicht unmittelbar auf die eigene Person bezieht und von daher reagiert, sondern wenn man dazu einen gewissen Abstand behält (die dritte Position s. o.) und in einer Fragehaltung bleibt gegenüber dieser Ablehnung. Sie könnte Verschiedenes bedeuten: Vielleicht kann ich sie als Versuch des Gegenübers verstehen, eine Wut an mir loszuwerden, die er eigentlich gegenüber jemand anderem hat, oder mir zu zeigen, wie sehr er sich von anderen abgelehnt fühlt – es gibt viele Möglichkeiten. In jedem Fall versucht der Seelsorger, alles, was geschieht, im gemeinsamen Verstehensprozess zu halten, den Spielraum offen zu halten, stehen zu bleiben und sich darin nicht beirren zu lassen.
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Jenseits der Grenze

Es kann aber auch schiefgehen: Seelsorge hat ein hohes Risiko. Je größer der Wunsch oder die Not, desto schmerzlicher ist es, wenn der Kontakt misslingt, wenn man sich im Kreise dreht oder wenn man gemeinsam gegen eine Wand rennt. Aber so ist es: Das Gelingen in der Seelsorge ist nicht verfügbar. Denn es ist ganz einfach ist, nicht in Kontakt zu kommen und nicht hilfreich zu sein. Auch bei bester Ausbildung hat man es nicht in der Hand, was geschieht. Auch sich selbst hat man nicht in der Hand. Seelsorgende lernen, ihre Gefühlswahrnehmungen für das Verstehen des Anderen zu verwenden, sie lernen eine Theorie, die ihnen hilft, scheinbar Unverständliches zusammenzubringen. Sie lernen auch, ein Gespräch so zu führen, dass sie dabei weitgehend von sich selber absehen können – das alles will gelernt, gefühlt, erfahren und reflektiert sein. Und trotzdem machen gerade Seelsorgende immer wieder die Erfahrung, dass sie nicht helfen, nichts tun können, dass sie ohnmächtig sind. Im Gegenteil: Je mehr sie helfen wollen, desto mehr verstellen sie den Weg des Anderen zu einem wirklichen Verstehen der eigenen Situation und damit zu einer kreativen Lösung, die nur der Ratsuchende selber finden kann. Das kann kein Mensch einem andern abnehmen.
Wie kann man so etwas aushalten?
Es geht in der Seelsorge in der Tat darum, viel auszuhalten: Großes Unheil, Unrecht, Seelenleid, bedrohliche Gedanken und Gefühle, Trostlosigkeit, Leere, Versagen, Schuld, Scheitern, Trauer, Verzweiflung, Schmerz, Enttäuschung, Hoffnungslosigkeit – die ganze Schattenseite unseres Lebens ist hier versammelt: Hier hat sie Raum. Hier steht niemand unter Druck, dass es ihm gutgehen muss. Deswegen kann es dem Anderen (und dadurch auch mir) – vielleicht – nach dem Gespräch ein wenig besser gehen. Das wäre schön. Es ist aber nicht unbedingt zu erwarten.
Die Haltung, die Seelsorgende brauchen, ist eigentlich eine Glaubenshaltung: Es ist das riskante Vertrauen darin, dass sich in dem Prozess des gemeinsamen Suchens etwas zeigen wird, das den Weg weist. Dass mitten im Dunkel ein Licht aufscheinen wird. Das ist nicht sicher, aber es kann sich einstellen. Es kommt, oder es kommt nicht. Man kann dieses Geschehen mit Gott in Verbindung bringen und das eine Erfahrung von Gnade nennen. Ein Seelsorgender, der Gott hinter sich oder neben sich weiß, wird vielleicht nicht so sehr verführt sein, selber die Lösung hervorbringen zu wollen, vorschnell zu trösten oder zu beschwichtigen; er kann es Gott überlassen. Das Bezogensein auf Gott setzt da eine heilsame Grenze.
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Grenzen anerkennen, Grenzen durchlässig halten

Wenn diese Gnadenerfahrung geschieht, ist das etwas Wunderbares. Etwas Kostbares, das es zu schützen gilt. Was braucht die Seelsorgende, um sich in dieser Haltung zur Verfügung stellen zu können für einen andern Menschen? Sie braucht einen guten Blick für die eigene Bedürftigkeit. Wer selbst schon in Abgründe geschaut hat, mag diesen Blick wohl haben. Aber es braucht auch solide Selbstfürsorge: Ich muss wissen, wie viele Gespräche ich nacheinander verkraften kann, welche Erholungszeit ich brauche, um das Erlebte seelisch zu verdauen, welche Befriedigung ich in meinem privaten Leben ermöglichen sollte, damit meine Wünsche (z. B. die nach Anerkennung oder Liebe) nicht zu sehr in die berufliche Situation hineinschwappen etc.
Nötig ist es, zuhören zu können, ohne gleich zu bewerten oder zu beurteilen, was wir im Alltag meistens sofort tun. Es braucht andererseits die Fähigkeit, NEIN sagen zu können ohne das Gefühl, sich entschuldigen zu müssen. Es braucht die Anerkennung der eigenen subjektiven Grenze: Manches kann ich oder will ich nicht aushalten.
Die Grenzsetzungen, die Seelsorge ermöglichen, sind aber nicht nur von der Seelsorgerin selbst zu vollziehen: Es braucht einen klaren Auftrag, der immer eine Begrenzung der Aufgabe mit sich bringt. Es braucht eine sichernde institutionelle Einbindung und Entlastung unter KollegInnen, eine verständnisvolle und herausfordernde Leitung – und eine Supervisionsgruppe im Rücken. Supervision reinigt den Raum immer wieder oder stellt verletzte Grenzen wieder her; manchmal öffnet sie auch eine Grenze.
Seelsorge ist vor allem eine Frage der Zeit. Seelsorgende brauchen Zeit und Ruhe und Gelassenheit. Sie sind herausgefordert, ihren Berufsalltag so zu gestalten, dass sie ab und an Zeit und Ruhe haben und nicht unter Druck stehen, auch nicht unter Erfolgsdruck. Beschleunigung ist unmöglich, denn seelische Prozesse sind wie alles Lebendige: Es braucht Zeit, um zu gedeihen; es ist unverfügbar, verletzlich, wunderbar. Und manchmal kaum auszuhalten.
Der Umgang mit Grenzen in der Seelsorge sollte ein beweglicher sein, kein starrer. Wenn man sich eine Grenze wie eine Haut vorstellt und nicht wie ein Eisentor, dann wird das vorstellbar.
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11) Entbindung von der Schweigepflicht

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Zur Spannung von Schweigepflicht und Offenbarungspflicht im staatlichen Recht

Um im Falle von Kindeswohlgefährdung dem Schutz möglicherweise Betroffener Vorrang zu geben, ist im staatlichen Recht z. B. die ärztliche Schweigepflicht unterbrochen worden. Im Falle von Kindeswohlgefährdung sind Ärztinnen und Ärzte verpflichtet, das, was sie im vertraulichen Arzt-Patienten-Verhältnis erfahren haben, dem Jugendamt gegenüber unter Beachtung bestimmter Regeln zu offenbaren.
Zur Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung heißt es im Bundeskinderschutzgesetz vom 22.12.2011 in Artikel 1 Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz unter § 4:
( 1 ) Werden
  1. Ärztinnen oder Ärzten, Hebammen oder Entbindungspflegern oder Angehörigen eines anderen Heilberufes, der für die Berufsausübung oder die Führung der Berufsbezeichnung eine staatlich geregelte Ausbildung erfordert,
  2. Berufspsychologinnen oder -psychologen mit staatlich anerkannter wissenschaftlicher Abschlussprüfung,
  3. Ehe-, Familien-, Erziehungs- oder Jugendberaterinnen oder -beratern sowie
  4. Beraterinnen oder Beratern für Suchtfragen in einer Beratungsstelle, die von einer Behörde oder Körperschaft, Anstalt oder Stiftung des öffentlichen Rechts anerkannt ist,
  5. Mitgliedern oder Beauftragten einer anerkannten Beratungsstelle nach den §§ 3 und 8 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes,
  6. staatlich anerkannten Sozialarbeiterinnen oder -arbeitern oder staatlich anerkannten Sozialpädagoginnen oder -pädagogen oder
  7. Lehrerinnen oder Lehrern an öffentlichen und an staatlich anerkannten privaten Schulen
in Ausübung ihrer beruflichen Tätigkeit gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen bekannt, so sollen sie mit dem Kind oder Jugendlichen und den Personensorgeberechtigten die Situation erörtern und, soweit erforderlich, bei den Personensorgeberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird.
( 2 ) Die Personen nach Absatz 1 haben zur Einschätzung der Kindeswohlgefährdung gegenüber dem Träger der öffentlichen Jugendhilfe Anspruch auf Beratung durch eine insoweit erfahrene Fachkraft. Sie sind zu diesem Zweck befugt, dieser Person die dafür erforderlichen Daten zu übermitteln; vor einer Übermittlung der Daten sind diese zu pseudonymisieren.
( 3 ) Scheidet eine Abwendung der Gefährdung nach Absatz 1 aus oder ist ein Vorgehen nach Absatz 1 erfolglos und halten die in Absatz 1 genannten Personen ein Tätigwerden des Jugendamtes für erforderlich, um eine Gefährdung des Wohls eines Kindes oder eines Jugendlichen abzuwenden, so sind sie befugt, das Jugendamt zu informieren; hierauf sind die Betroffenen vorab hinzuweisen, es sei denn, dass damit der wirksame Schutz des Kindes oder des Jugendlichen in Frage gestellt wird. Zu diesem Zweck sind die Personen nach Satz 1 befugt, dem Jugendamt die erforderlichen Daten mitzuteilen.
Geistliche und Seelsorgerinnen und Seelsorger werden in diesem Gesetz (wie auch in anderen Gesetzen, wo es um Offenbarungspflichten von Berufsgeheimnisträgern geht) nicht genannt. Gleichwohl müssen sie wissen, welche Ziele damit verfolgt werden und welche Regelungen für den staatlich (re)finanzierten Kinderund Jugendhilfebereich sowie für zahlreiche Berufsgruppen gelten.
Bei der Prüfung, wie Seelsorgerinnen und Seelsorger zur Abhilfe von konkreter Kindeswohlgefährdung beitragen und wie sie mit seelsorglich Anvertrautem umgehen können, sollten sie einerseits wissen, dass für sie juridifizierte Regelungen in Gestalt von Ausnahmen von der Schweigepflicht nicht bestehen. Andererseits sollten sie umso mehr ihrer Verantwortung dafür gerecht zu werden suchen, dem Kinderschutz vorrangig Rechnung zu tragen und mit der Person, die sich ihnen seelsorglich anvertraut hat, entsprechend zu sprechen.
Die seelsorgliche Schweigepflicht soll einen befreienden Vertrauensraum schützen – ein Versteck für den Seelsorger, sich seiner Verantwortung zu entziehen, darf sie nicht sein!
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Zum Umgang mit dem Seelsorgegeheimnis in Fällen von sexualisierter Gewalt

In Seelsorgegesprächen erfahren Seelsorgende möglicherweise von sexualisierter Gewalt gegen Kinder und Jugendliche oder Erwachsene. Das Wichtigste in solch einem Fall ist es, nicht in hektischen Aktionismus zu verfallen.
Der erste Schritt in solchen Fällen ist die Klärung des möglichen Handlungsbedarfs: Sind andere: Kinder und Jugendliche oder Erwachsene sofort zu schützen? Besteht Gefahr im Verzuge? Sodann: Könnten weitere Grenzverletzungen vorgekommen sein, so dass es womöglich weitere Betroffene geben könnte, denen Gelegenheit zu geben ist, sich zu melden?
Wenn solch ein Handlungsbedarf erkennbar ist, muss der weitere Umgang mit der Schweigepflicht geklärt werden. Denn mit der seelsorglichen Verschwiegenheit steht der Opferschutz im Konflikt. U. U. muss solch eine Klärung sehr rasch erfolgen.
Zwar stellt die Bewahrung der kirchlichen Handlungsfähigkeit in der kirchlichen Gesetzgebung und darüber hinaus ein wichtiges Gut dar – die Verpflichtung zur Wahrung des Seelsorgegeheimnisses dürfte also nicht durchbrochen oder vernachlässigt werden. Eine Kirche jedoch, die von Betroffenen bitter gelernt hat, wie schwer es ist, nach einer Missbrauchserfahrung überhaupt Worte zu finden und sich jemandem anzuvertrauen, wird darüber nicht „hinweghören“ und ausweichen, sondern Wege suchen, wie zuerst mögliche Taten verhindert oder den Betroffenen zu ihrem Recht zu verhelfen ist. Da es auch falsche Bezichtigungen gibt, wird sie das nicht ungeprüft tun. Insgesamt ist inzwischen deutlich, dass nur eine Kirche, die auf Betroffene hört, handlungsfähig bleibt.
Klar ist: Es ist möglich, sich von dem Seelsorge-Gegenüber von der Verpflichtung zur Verschwiegenheit befreien zu lassen. Das muss eingeschränkt und sehr gezielt erfolgen. Die klare Unterscheidung, was unter vier Augen bleibt und was genau zu welchem Zweck an wen weitergegeben werden darf, kann den Vertrauens- und Freiraum der Seelsorge für beide Beteiligte noch bestärken.
Auch in diesem Fall wird der Seelsorger oder die Seelsorgerin nochmals kritisch prüfen – und sich ggf. mit einer geeigneten Stelle darüber beraten –, ob und inwieweit er oder sie Aussagen und Mitteilungen an eine andere Stelle verantworten kann.
Natürlich wäre es das Beste, wenn Klienten, die Fälle sexualisierter Gewalt zu erkennen geben, sich in einem ebenso geduldigen wie zielgerichteten Gespräch selbst davon überzeugen ließen, dass nun aber alles darauf ankommt, weitere vor Missbrauch zu bewahren und Betroffenen Hilfe anzubieten. Es gibt solche Erkenntnisprozesse, aber sie sind selten.
Zumeist wird der Seelsorger oder die Seelsorgerin den Konflikt annehmen und in ihn hineingehen müssen. Und sie oder er wird überhaupt erstmal veranschaulichen und klarmachen müssen – dem anderen und sich selbst zugleich –, was die Situation bedeutet, worin die akute Gefahrenlage und der Handlungsbedarf bestehen. Die Seelsorgerin oder der Seelsorger darf sich nicht korrumpieren lassen, sondern muss Gegenüber bleiben. Gerade so kann es auch gelingen, tiefere Beweggründe zu erfassen und zugleich – mit dem Klienten! – in ein Erschrecken zu kommen, was geschehen ist. Auch solche Gesprächsentwicklungen gibt es, aber sie sind selten.
In den meisten Fällen wird es nicht gelingen, mit dem Gegenüber gemeinsam in eine Gesprächsentwicklung zu kommen, die sich zu einem Opferschutz-orientierten Handeln öffnet. Dann ist der Seelsorger bzw. die Seelsorgerin damit allein und wird sich dem damit gegebenen Gewissenskonflikt zwischen Verschwiegenheit und wirksamer Offenbarung stellen und abwägen müssen.
In dieser Situation gibt es eine ganze Reihe von Beratungsmöglichkeiten, die zur Klärung helfen können. Die Entscheidung abnehmen können sie jedoch nicht. Gerade weil sexualisierte Gewalt einen in Tiefenschichten irritiert, kann schon eine pseudonymisierte Fall-Erörterung zur Klärung helfen, sei es in der Supervision, sei es in kollegialer Beratung, sei es mit einer externen Beratungsstelle oder der UNA (der unabhängigen Ansprechstelle für Menschen, die in der Nordkirche sexuelle Übergriffe erlebt oder davon erfahren haben), sei es mit der Koordinierungsstelle Prävention, sei es mit der bzw. dem Dienstvorgesetzten. Das Allerwichtigste ist allemal, mit dem Konflikt nicht allein zu bleiben.
Zur Bearbeitung der Konfliktsituation ist es hilfreich, sich die Handlungsschritte im o. g. Bundeskinderschutzgesetz klarzumachen. Wenn die Seelsorgerin oder der Seelsorger eine Gefahr für Leib und Leben (z. B. Vergewaltigung, insbesondere von Kindern) nur abwenden kann, indem nach sorgfältigem Abwägen der „widerstreitenden Interessen“ die Schweigepflicht verletzt wird, ist es sinnvoll, nach dem im Bundeskinderschutzgesetz dargestellten Verfahrensweg vorzugehen (auch wenn dieses Gesetz für Seelsorgerinnen und Seelsorger als Geistlichen nicht gilt), so dass es zur Verständigung der zuständigen Stelle (z. B. die Polizei) kommt.
UNA – Unabhängige Ansprechstelle
für Menschen, die in der Nordkirche sexuelle Übergriffe
erlebt oder davon erfahren haben – bei Wendepunkt e. V.
Telefon 0800 0220099, una@wendepunkt-ev.de
www.wendepunkt-ev.de/una
Zur gewissenhaften Abwägung, welches Handeln vor Gott geboten ist, gehört, die möglichen Handlungsfolgen abzuschätzen. Die mögliche Befreiung aus einer Opfersituation kann dazugehören. Es kann auch darum gehen, als Seelsorger bzw. Seelsorgerin im Umgang mit dem Seelsorgegeheimnis nicht mehr als vertrauenswürdig zu gelten und daher jedenfalls den bisherigen Dienst nicht mehr weiter wahrnehmen zu können. Da eine Entscheidung mit derartigen Folgen zu tun haben kann, ist es wichtig, mit der oder dem Dienstvorgesetzten bzw. der Leitung vorher zu sprechen.
Zudem ist klarzustellen, dass es sich bei einem etwaigen Bruch des Seelsorgegeheimnisses um eine schwerwiegende Amtspflichtverletzung handelt. Die Nordkirche als Dienstherrin ist gesetzlich dazu verpflichtet, möglichen Amtspflichtverletzungen im Rahmen eines Disziplinarverfahrens nachzugehen. Dabei wird auch zu prüfen sein, welche Disziplinarmaßnahme zu verhängen ist.
Fazit:
Es gilt das Ziel vor Augen zu haben. Um dieses Zieles willen ist die Entbindung von der Schweigepflicht eine wichtige Möglichkeit. Sie kann nur durch das jeweilige Gegenüber erfolgen. Wo sie nicht zustande kommt, bleibt der Gewissenskonflikt, abwägen zu müssen, entweder an der Nicht-Verhinderung der Gefahr für Leib und Leben oder am Bruch des unverbrüchlichen Seelsorgegeheimnisses schuldig zu werden. Diesem Konflikt ist nicht auszuweichen. Aber er kann unter Zuhilfenahme von Analogien und geeigneter Beratung zu der Entscheidung gebracht werden, die man sich vor Gott zu verantworten getraut.
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12) Unterscheidung von Dienstvorgesetztemhandeln und Seelsorge

Es kommt vor, dass Dienstvorgesetzten- und Seelsorge-Handeln so vermischt werden, dass am Ende weder ein Führungs- noch ein Seelsorge-Mehrwert erkennbar ist. Noch schlimmer wird es, wenn Leitungshandeln in Seelsorge „verpackt“ wird, sei es weil die Leitung sich Klarheit nicht zutraut, sei es weil Tatbestände, die auch nach außen Klarheit erfordern würden, mit dem Mantel des Seelsorglichen umhüllt und damit vor anderen verborgen werden sollen. Im Zusammenhang mit Missbrauchsfällen ist so etwas in der Nordelbischen Kirche geschehen.
Aus diesen und anderen Gründen wird immer wieder nach einer klaren Trennung zwischen seelsorglichem und Leitungshandeln gerufen. Gerade bei Pastorinnen und Pastoren solle es keine Vermischungen geben.
Blickt man jedoch in die Verfassung der Nordkirche und in das Pfarrdienstgesetz der EKD, so wird rasch deutlich, dass die Seelsorge so grundlegend zum Dienst des Pastors oder der Pastorin gehört, dass sie auf dem Weg der Wahl in ein Leitungsamt nicht etwa „verloren“ gehen kann. Auch geistliche Leitung ist ohne Seelsorge nicht beschreibbar.
Dennoch bedarf es einer Differenzierung – sowohl zur Sicherung des Leitungsals auch des Seelsorgehandelns. Sie wird auf der Basis der Grundlinien dieser Handreichung möglich. Denn während zum Leitungshandeln der bzw. die Eine gegenüber der bzw. dem Anderen verpflichtet ist, kommt Seelsorge nur durch die freie Bereitschaft dazu von beiden Seiten zustande.
Eine Leitungsperson kann zwar ihr Leitungshandeln grundsätzlich seelsorglich auszurichten versuchen. Auch die Dienstaufsicht enthält seelsorgliche Aspekte. Damit ist jedoch noch lange nicht gesagt und schon gar nicht die Verpflichtung dazu gegeben, dieses Leitungshandeln auch im Rahmen der Seelsorge anzunehmen. Seelsorge bleibt ein zweiseitiges Geschehen.
Und auch für die Leitungsperson selbst gibt es Situationen, in denen es um der Klarheit des Leitungshandelns willen ausgeschlossen sein muss, denselben Personen gegenüber gleichzeitig ein Angebot zur Seelsorge zu machen. Die Aufgabe der Leitung zwingt zu einem konsequenten Handeln, das auch beim Gegenüber auf eine andere denn eine seelsorgliche Aufnahme gerichtet ist.
Diese Distanz ist nötig und muss ausgehalten werden – sie darf nicht durch seelsorgliche Nähe verbrämt oder unterlaufen werden.
Das bedeutet: Der bzw. die Vorgesetzte ist gefordert, um der Wahrnehmung des kirchlichen Auftrags willen klar zu unterscheiden und anzugeben, um was es gehen soll: eine Anweisung, eine Ansage, ein Jahresgespräch, eine Beurteilung – oder ein Gespräch u. a. m. mit seelsorglicher Dimension.
Auch vom Dienstvorgesetztenhandeln her lässt sich die Differenzierung darstellen und begründen, und zwar wie folgt:
  1. Geistliche Leitung hat sich stets am kirchlichen Auftrag auszurichten. Das ist die Basis für vielfältige aktuelle Aufgaben von Kirchenleitung. Ein Element geistlicher Leitung ist die Personalführung und damit auch die Dienstaufsicht. Das Dienstrecht der Pastorinnen und Pastoren verdeutlicht, dass Dienstaufsicht auch seelsorgliche Aspekte enthält.
    Gemäß § 58 Absatz 1 Pfarrdienstgesetz der EKD (PfDG.EKD) soll die Dienstaufsicht sicherstellen, dass Pastorinnen und Pastoren ihre Pflichten ordnungsgemäß erfüllen. Sie umfasst auch die Aufgabe, Pastorinnen und Pastoren in ihrem Dienst zu unterstützen und Konflikten rechtzeitig durch geeignete Maßnahmen, insbesondere Visitation, Mediation, Gemeindeberatung oder Supervision zu begegnen.
    Von den präventiv angelegten Maßnahmen der Dienstaufsicht wie Fortbildung, Mediation, Visitation, Supervision etc. sind Maßnahmen der Personalführung in (akuten) Konfliktsituationen zu unterscheiden. Diese sind eher mit der Seelsorge im engeren Sinn vergleichbar, die auf persönliche Zuwendung, auf absolute Vertraulichkeit und auf Bereitschaft zu gegebenenfalls längerfristiger persönlicher Begleitung angewiesen ist.
    Unter Umständen ist eine bisherige funktionierende Zusammenarbeit durch diese Maßnahmen nicht mehr herzustellen. Um den reibungslosen Dienstablauf vor Ort zu sichern, sieht das Dienstrecht in diesen Fällen besonders im Gesetz geregelte Mittel der Dienstaufsicht vor, wie zum Beispiel die vorläufige Untersagung der Dienstausübung oder die Einleitung eines Versetzungsverfahrens. Daneben bestehen weitere Möglichkeiten der Einflussnahme durch die Dienstaufsichtführenden, zum Beispiel durch Ermahnung und Rüge, vgl. § 21 Absatz 1 Pfarrdienstgesetzergänzungsgesetz (PfDGErgG).
    Die Verfassung der Nordkirche weist den Pröpstinnen und Pröpsten einerseits die Dienstaufsicht über die Pastorinnen und Pastoren zu, vgl. Artikel 65 Absatz 4 Nummer 8 Verfassung. Zugleich haben die Pröpstinnen und Pröpste auch die Aufgabe, die Pastorinnen und Pastoren sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter seelsorglich zu begleiten und die Verantwortung für deren Personalentwicklung zu tragen, vgl. Artikel 65 Absatz 4 Nr. 9 Verfassung. (Das gilt auch für die Hauptbereichsleiterinnen und Hauptbereichsleiter in ihrer Funktion als Dienstaufsichtführende.) Das Gleiche gilt für die Bischöfinnen und Bischöfe hinsichtlich der Dienstaufsicht und Seelsorge für die Pröpstinnen und Pröpste, vgl. Artikel 98 Absatz 2 Nummer 2 und 8 Verfassung.
  2. Diese gesetzliche wie verfassungsrechtliche Zuweisung einer Doppelfunktion des leitenden geistlichen Dienstes (Dienstvorgesetzte/Dienstvorgesetzter und zugleich Seelsorgerin/Seelsorger) kann zu Problemen führen. Das Dienstrecht bestimmt, dass derjenige, der die Dienstaufsicht ausübt, darauf zu achten hat, dass das Handeln im Rahmen der Dienstaufsicht von der Seelsorge an Pastorinnen und Pastoren unterschieden wird, vgl. § 58 Absatz 3 PfDG.EKD. Die Dienstaufsicht verfügt über rechtliche Mittel (bis hin zur Trennung), die in der Seelsorge keinen legitimen Platz haben.
    Die Aufarbeitung von Missbrauchsfällen im Gebiet der ehemaligen Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche in Norddeutschland, heute Nordkirche, hat in dem Schlussbericht der unabhängigen Expertenkommission deutlich aufgezeigt, dass Bereiche der Seelsorge und der Personalverantwortung klar voneinander abgegrenzt werden müssen und nicht in Personalunion ausgeübt werden dürfen. Denn die Aufgaben in Personalunion wahrzunehmen, kann zu einem unlösbaren Interessenkonflikt führen.
    Die mit der Dienstaufsicht Beauftragten können Informationen, die sie im Rahmen eines seelsorglichen Gespräches erfahren, nicht an die oberste Verwaltungsbehörde und/oder an die disziplinaraufsichtführende Stelle weitergeben. Das wäre ein Verstoß gegen die seelsorgliche Schweigepflicht. Die Ausübung der Dienstaufsicht erfordert aber, zum Beispiel im Fall des Vorliegens eines Anfangsverdachts, Ermittlungen einzuleiten oder bei feststehenden Pflichtverletzungen dienstaufsichtliche oder disziplinarische Maßnahmen zu erlassen. Dieser Verpflichtung könnten die mit der Dienstaufsicht Beauftragten nicht nachkommen.
  3. Zur Umsetzung der klaren Unterscheidung von Dienstaufsicht und Seelsorge entsprechend § 58 Absatz 3 PfDG.EKD wird Folgendes empfohlen:
    1. Es ist stets darauf zu achten, dass dienstaufsichtliches Handeln vom Handeln als Seelsorgerin oder Seelsorger unterschieden wird. Pastorinnen und Pastoren muss stets deutlich offengelegt werden, wann es sich um ein seelsorgliches und wann um ein dienstaufsichtliches Tätigwerden handelt und wann das eine ggf. in das andere übergeht. Pastorinnen und Pastoren sollten ihren Dienstvorgesetzten frühzeitig im Gespräch anzeigen, ob die Gesprächsinhalte seelsorglichen Charakter haben.
    2. Wird im Rahmen der Personalführung ein dienstaufsichtliches Handeln notwendig oder zeichnet sich in einem Gespräch zwischen Pastorinnen und Pastoren und den mit der Dienstaufsicht Beauftragten ab, dass dienstaufsichtliches Handeln erforderlich wird, so haben die mit der Dienstaufsicht Beauftragten die betroffene Person darauf hinzuweisen, dass sie als Seelsorgerin bzw. Seelsorger in Bezug auf den im Gespräch dargelegten Sachverhalt nicht mehr zur Verfügung stehen, u. a. da sie ansonsten ihre Kenntnisse, die zur Einleitung notwendiger Schritte erforderlich werden, nicht weitergeben können.
    3. Gleichzeitig haben die mit der Dienstaufsicht Beauftragten die Pflicht, die betroffenen Personen darauf hinzuweisen, dass sie damit nicht ihren Anspruch auf seelsorgliche Begleitung verlieren, sondern sie sich zur Vermeidung eines Interessenkonflikts an die Bischöfinnen und Bischöfe oder an andere ordinierte Pastorinnen und Pastoren wenden können. Letzteres gilt insbesondere im Fall der Bischöfinnen und Bischöfe in ihrer Funktion als Dienstaufsichtführende über die Pröpstinnen und Pröpste.
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13) Nicht alles ist Seelsorge

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Pastoren und Pastorinnen werden zu recht Seelsorger und Seelsorgerinnen genannt.
Dennoch kann nicht jedes Gespräch und jeder Kontakt als ein seelsorgliches Gespräch gewertet werden. Dies ist entscheidend in der Einschätzung des Gesetzes zum Seelsorgegeheimnis.
Für viele pastorale Aufgaben erscheint dies selbstverständlich. So unterliegt beispielsweise eine Konfirmandenstunde nicht dem Seelsorgegeheimnis. Das gleiche gilt für Themen der Geschäftsführung, einzelne Gruppenarbeiten oder den Gottesdienst.
Dort, wo ein Gespräch eindeutig als Seelsorge von beiden Teilnehmenden benannt ist, unterliegt es fraglos dem Seelsorgegeheimnis.
Darüber hinaus kann auch eine Begegnung im sogenannten offenen Raum, z. B. ein Dialog auf einem Marktplatzt, als Seelsorgegespräch im Sinne des Seelsorgegeheimnisses gewertet werden.
Es gibt aber Grenzsituationen, die genau beachtet sein wollen und beachtet werden müssen.
Z. B. der Ablauf einer Konfirmandenstunde kann veröffentlicht werden. Vertraut ein Konfirmand innerhalb einer Stunde dem Pastor oder der Pastorin ein Geheimnis an, so ist dies zu wahren. Sollte es jedoch um einen Inhalt gehen, nach dem der Konfirmand oder andere gefährdet sind (z. B. bei einem Missbrauchsverdacht), gilt es verantwortlich zu agieren.
Die Unterscheidung zwischen einem Gespräch unter Seelsorgegeheimnis und einem anderen vertrauensvollen Gespräch unterliegt der Verantwortung des Seelsorgers. In Grenzsituationen ist dies zwischen den Gesprächspartnern zu klären.
Die Erfahrung lehrt aber, dass manche Begegnungen als unter dem Siegel der Seelsorgegeheimnisverpflichtung stehend behandelt wurden, die so nicht gewertet werden durften. Dies gilt vor allem für Gespräche in der Rolle der Dienstvorgesetzten, der Leitungsrolle der Gemeinde und des kollegialen Mitarbeitergesprächs bzw. dem Pfarramt. Auch über diese Inhalte sollte Verschwiegenheit gewahrt werden, aber aus anderem Grund und nicht im Sinne des Seelsorgegeheimnisses.
Insgesamt gilt allgemein, was in Abschnitt 12 bereits im Besonderen zur Unterscheidung von Dienstvorgesetztemhandeln und Seelsorge benannt wurde: Nicht alles ist Seelsorge und fällt unter das Seelsorgegeheimnis. So sehr die Übergänge gerade im gemeindlichen Alltag gleitend sein mögen (siehe Abschnitt 5), so sehr macht es doch Sinn, Seelsorge gemeinsam auch als solche zu markieren.
Wo Seelsorge und anderes miteinander vermischt wird, entsteht die Gefahr, als Seelsorgerin oder Seelsorger durch das Gegenüber instrumentalisiert zu werden oder auch selbst zur Mitwisserin oder zum Komplizen zu werden. Was als hohes Gut zu schützen ist, droht dann zum Schweigekartell und missbraucht zu werden.
Dagegen gilt es aktiv anzugehen. Sich supervisorisch oder bei Vorgesetzten Rat zu holen, ist das Minimum.
Es ist zu klar unterschiedenem Handeln zu ermutigen: zu Begegnungen in seelsorglicher Verantwortung und zu Gesprächen und Handeln in anderer Verantwortung. Beides geschieht Menschen gegenüber und in Verantwortung vor Gott.
Eines aber darf Seelsorge auf keinen Fall sein: Verführung zum Schutz vor Verantwortung. Stattdessen hat Seelsorge die Aufgabe, die Kraft zum Menschsein zu stärken, also auch die Kraft, um Gottes willen Verantwortung wahrzunehmen. Das gilt zuerst für den Seelsorger und die Seelsorgerin selbst.
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Resumee

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Nach dem gezielt herbeigeführten Flugzeugabsturz in Frankreich hat Joachim Gauck beim Trauerakt zum Gedenken an die Opfer u. a. gesagt: „Wir sind alle im täglichen Leben auf Vertrauen angewiesen. Ein Leben ohne Vertrauen ist nicht vorstellbar … Eine Reihe von Berufen und Aufgaben (gibt es), deren Ausführung mit einer besonders herausragenden Vertrauensstellung verbunden ist: die Lehrer unserer Kinder, Ärzte und Pfleger, Psychologen, Pfarrer, Seelsorger, … auch Lokführer, Schiffskapitäne und Piloten. … Und wenn hier, an dieser empfindlichen Stelle, Vertrauen missbraucht wird, dann trifft uns das ins Mark. … Wir wissen: Weder vor technischen Defekten noch vor menschlichem Versagen gibt es absolute Sicherheit – und erst recht nicht vor menschlicher Schuld. Umso mehr danke ich allen, die Tag für Tag an ihrer Stelle das in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigen, die pflichtgetreu und gewissenhaft für all diejenigen arbeiten, die ihnen buchstäblich anvertraut sind.“
In diesem Sinne muss es im Umgang mit der Schweigepflicht darum gehen, das Vertrauen als äußerst hohes Gut zu schützen. Deshalb ist das Versprechen, das Seelsorgegeheimnis zu wahren, und die Verpflichtung auf die Schweigepflicht Voraussetzung für die Beauftragung mit der Seelsorge.
Die Handreichung macht jedoch auch deutlich, dass es Konfliktsituationen gibt, die einen durch die Bewahrung des Seelsorgegeheimnisses schuldig werden lassen, weil ein anderes, möglicherweise noch höheres Gut in größter Gefahr steht.
Alle Ausführungen in dieser Handreichung sind so zu verstehen, dass in solch einer Konfliktsituation nicht an eine Kasuistik zu denken ist, die einen sauber herausführen könnte. Welcher Weg auch beschritten wird – er ist mit Schuld verbunden.
Diese Erkenntnis ist jedoch keineswegs dahingehend zu verstehen, dass in der Abwägung „alle Katzen grau“ wären – im Gegenteil: Zwischen Schuld und Schuld braucht es gute Beratung – und niemanden, der sich darüber erhebt.
Anhang:15#
Pastor Sebastian Borck, Leiter
– Seelsorge-Fachstelle –
Dorothee-Sölle-Haus
Königstraße 54, 22767 Hamburg
Tel. 040/30 620-1281 Fax -1289
mobil: 0176/8328 9475
Sebastian.Borck@hb2.nordkirche.de
Az.: R-SeelGG.ErgG.RVO-Bf-150914
Hamburg, 14.9.2015
An
die Pastorinnen und Pastoren und
die Seelsorgerinnen und Seelsorger
An
den Landesbischof, die Bischöfin und die Bischöfe, die Pröpstinnen und Pröpste,
die Landespastoren und die Hauptbereichsleitungen,
die Leitungen von Predigerseminar, Pastoralkolleg und DiakonInnen-Ausbildung,
die Leitungen der selbständigen diakonischen Einrichtungen im Bereich der Nordkirche,
die Hauptstellenleitungen in den Diakonischen Werken für die Beratungsstellenarbeit,
die Leitung des Kirchenkreisverbandes Hamburg
Ziele und Grenzen des Seelsorgegeheimnisgesetzes der EKD
Neuregelung der Seelsorge-Beauftragung Nicht-Ordinierter
Anlagen: 16#
  • Seelsorgegeheimnisgesetz der EKD (SeelGG)
  • Seelsorgegeheimnisgesetzergänzungsgesetz der Nordkirche (SeelGGErgG)
  • RVO zur Durchführung des Seelsorgegeheimnisgesetzes (RVO)
  • Information zum Seelsorge-Zertifikat und Muster
  • 3 Muster-Formulare:
    "Urkunde über die Beauftragung mit der Seelsorge" (entspr. SeelGG)
    "Verpflichtung auf das Seelsorgegeheimnis"
    und "Vereinbarung über die ehrenamtliche Tätigkeit in der Seelsorge“
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Schwestern und Brüder,
die Synode der EKD hat das beiliegende Kirchengesetz zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses (Seelsorgegeheimnisgesetz – SeelGG) vom 28. Oktober 2009 beschlossen. Landessynode und Erste Kirchenleitung der Nordkirche haben nun – ebenfalls beiliegend – die dazu erforderlichen landeskirchlichen Bestimmungen zur Beauftragung (Seelsorgegeheimnisgesetzergänzungsgesetz vom 19. März 2015 – SeelGGErgG) und weitere nähere Regelungen (RVO zur Durchführung des Seelsorgegeheimnisgesetzes vom 17. April 2015) beschlossen. Die 3 Texte bilden einen inneren Zusammenhang.
Wir möchten Sie hier darüber informieren, was mit dieser Neuregelung verbunden ist – und was nicht. Und wir möchten Sie auf einiges aufmerksam machen, was nun zu tun ist.
Begrenztes Ziel:
Das Seelsorgegeheimnisgesetz der EKD hat nur eine begrenzte Aufgabenstellung – nämlich sicherzustellen, dass für Menschen, die zu einem dafür qualifizierten Diakon oder zu einer ausgebildeten hrenamtlichen Mitarbeiterin in die Seelsorge kommen, das Seelsorgegeheimnis genauso unter den staatlichen Schutz des Zeugnisverweigerungsrechts fällt wie bei Pastorinnen und Pastoren auch.
Das SeelGG mit den dazugehörigen landeskirchlichen Beauftragungs- und Durchführungs-Regelungen hat also nur ein sehr begrenztes Ziel: Es beschreibt die kirchlichen Bedingungen, damit das staatliche Zeugnisverweigerungsrecht nicht nur für die Seelsorge von Ordinierten, sondern (soweit möglich) auch für die Seelsorge von dazu beauftragten Nicht-Ordinierten gilt.
Mit dem Gesetz geht es also nicht etwa darum, gesetzlich regeln zu wollen, was Seelsorge insgesamt soll, will und kann!
Damit hängt auch zusammen, dass seelsorglich aus guten Gründen weit mehr Menschen tätig sind, als dass sie von der Reichweite dieses Gesetzes erfasst werden könnten. Es wird weiterhin auch Seelsorge, auch Beauftragungen zur Seelsorge und das Seelsorgegeheimnis geben, wo dafür aus verschiedenen Gründen das staatliche Zeugnisverweigerungsrecht nicht in Anspruch genommen werden kann.
Es wird also weiterhin auch noch andere Formen der Beauftragung zur Seelsorge geben als die "Erteilung eines bestimmten Seelsorge-Auftrages" im Sinne des SeelGG. Und es ist auch damit zu rechnen, dass nicht alle SeelsorgerInnen, die vielleicht solch einen bestimmten Seelsorge-Auftrag erteilt bekommen möchten, ihn auch erteilt bekommen können – dazu unten mehr.
Neuregelungen klären, machen aber auch Arbeit:
Trotz dieser Einschränkungen bedeuten die Regelungen, dass mit der Beauftragung nichtordinierter SeelsorgerInnen ein Bereich neu geordnet wird, der vorher nicht oder jedenfalls nicht so geregelt war. Das SeelGG sowie SeelGErgG und RVO bringen Standards und Klarheit, aber auch einen gewissen Aufwand mit sich. Die Regelungen in der Nordkirche sind sehr bewusst dezentral angelegt – das bedeutet aber auch: sie funktionieren nur, wenn sich alle daran halten.
Mit der Neuregelung ist auch Arbeit verbunden – vor allem für die Leitenden:
 Bitte prüfen Sie in Ihrem Bereich und in Ihrer/n Einrichtung/en den Bestand an SeelsorgerInnen auf Nicht-Ordinierte (hauptamtliche wie ehrenamtliche) und was entsprechend SeelGG, SeelGErgG und RVO zu tun ist. Als nicht-ordinierte/r Seelsorger/in wenden Sie sich bitte an Ihre/n Vorgesetzte/n.
Zunächst geht es darum, wer einen bestimmten Seelsorge-Auftrag im Sinne des SeelGG erteilen kann:
Das Recht, im Sinne des SeelGG einen bestimmten Seelsorge-Auftrag zu erteilen, haben in der Nordkirche
  • der Landesbischof,
  • die Bischöfin im Sprengel Hamburg und Lübeck,
  • der Bischof im Sprengel Schleswig und Holstein,
  • die Bischöfe im Sprengel Mecklenburg und Pommern;
außerdem die Geistlichen, denen je für ihren Bereich bischöflich (durch Beschluss im Bischofsrat am 12.6. bzw. 8.9.2015) das Recht zur Beauftragung erteilt worden ist bzw. wird:
  • die leitenden Geistlichen in den Kirchenkreisen,
  • die Landespastoren,
  • die Leitung des Hauptbereichs 2 für Seelsorge, Beratung und ethischen Diskurs;
außerdem
  • der für Diakonie zuständige Dezernent,
  • die LeiterInnen der Hauptbereiche 1, 3 und 5,
  • der Direktor des Zentrums für Mission und Ökumene,
  • der Vorstand des Diakonie-Hilfswerks Hamburg,
  • der Leiter des Kirchenkreisverbands Hamburg,
  • der Leiter des Beratungs- und Seelsorgezentrums St. Petri in Hamburg,
  • der Leiter des Ev. Beratungszentrums Kiel.
Darüber hinaus können die bischöflichen Personen das Recht zur Beauftragung mit der Seelsorge im Einzelfall auch an weitere Personen übertragen; diese Übertragung ist personengebunden (ad personam) und dem Landeskirchenamt mitzuteilen – Nachfragen bitte ℅ Seelsorge-Fachstelle/Sebastian Borck.
 Alle solche Seelsorge-Aufträge Erteilenden richten bitte vor Ort ein Beauftragungs-Register mit allen in dieser Weise erfolgten Beauftragungen (inkl. den dazugehörigen schriftlichen Unterlagen) ein.
 Bitte senden Sie von jeder Beauftragungs-Urkunde eine Abschrift an das Landeskirchenamt – Dezernat KH, am besten auch eine weitere Abschrift an die Einrichtung, in der die/der so zur Seelsorge Beauftragte tätig ist.
 Bitte sorgen Sie dafür, dass die Übergangsregelung (RVO § 5) umgesetzt wird.
 Bitte überprüfen Sie die Beauftragungen regelmäßig auf die Fristen und ggf. Erneuerungsbedarf.
Sodann geht es um die Beauftragung selbst:
 Wenn Sie als Leitungsperson einer Einrichtung zu dem Ergebnis kommen, dass jemandem ein bestimmter Seelsorge-Auftrag erteilt oder erneuert werden sollte, oder wenn Sie als haupt- oder ehrenamtliche/r Seelsorger/in selbst eine Seelsorge-Beauftragung in dieser Form wünschen, so wenden Sie sich dazu bitte über ihre/n Dienstvorgesetzte/n an die für Sie zuständige Person von den oben Genannten.
 Bitte teilen Sie der den Seelsorge-Auftrag erteilenden Stelle mit, von wem im konkreten Fall die Aufsicht übernommen wird.
 Zur Erteilung eines nach Inhalt und Zeit bestimmten Seelsorge-Auftrages ist erforderlich:
  • das Zertifikat der Nordkirche über die Qualifizierung zu ehrenamtlicher Seelsorge [siehe Anlage17#],
  • oder im Falle hauptamtlich Tätiger die Prüfung, dass deren Qualifizierung zur Seelsorge mindestens den Kriterien im Seelsorgezertifikat entspricht (bei Rückfragen hierzu wenden Sie sich bitte an das LKA – Dez. KH);
  • dass jemand "sich persönlich und fachlich als geeignet erweist" (§ 3 Abs. 1b. SeelGG);
  • die aktenkundige Verpflichtung auf das Seelsorgegeheimnis [Muster anbei18#];
  • die Klärung, wem konkret die Aufsicht obliegt;
  • die Beurkundung der Erteilung eines nach Inhalt und Zeit bestimmten sowie aufsichtlich geordneten Seelsorge-Auftrages [Muster "Urkunde über die Beauftragung mit der Seelsorge" anbei19#].
Nicht-ordinierte Seelsorgerinnen und Seelsorger (das sind vor allem hauptamtliche DiakonInnen und GemeindepädagogInnen sowie Ehrenamtliche) benötigen künftig, soweit sie in dieser Form der Beauftragung tätig sein wollen, eine nachweisbare Qualifikation zur Seelsorge – dazu gibt es bereits seit einiger Zeit das Seelsorge-Zertifikat der Nordkirche [samt Gebrauchsanweisung anbei20#].
Sie müssen schriftlich auf das Seelsorgegeheimnis verpflichtet sein.
Sie erhalten über die Beauftragung eine Urkunde, aus der die inhaltliche und die zeitliche Bestimmung und die Regelung der Aufsicht hervorgehen.
Während hauptamtlich Tätige einen Arbeitsvertrag haben, sollte mit Ehrenamtlichen eine Tätigkeitsvereinbarung geschlossen werden [Muster anbei21#].
Alle Regelungen sind so angelegt, dass im Konfliktfall einem staatlichen Gericht gegenüber lückenlos nachzuweisen ist, dass jemand von der Kirche her mit der Seelsorge beauftragt ist und somit in ihrem Auftrag als "Geistliche/r" handelt. Nötig ist dazu:
  • der Ausbildungsnachweis (Seelsorgezertifikat),
  • die schriftliche Verpflichtung auf das Seelsorgegeheimnis,
  • die Beauftragungsurkunde, aus der der inhaltliche Bereich und die Zeit hervorgeht,
außerdem,
- dass es sich überhaupt um eine seelsorgliche Begegnung gehandelt hat,
- dass die seelsorgliche Begegnung unter Verschwiegenheitsbedingungen stattgefunden hat.
An welche Bereiche ist bei diesem Gesetz besonders gedacht?
Im Vordergrund stehen die Bereiche, wo Seelsorge nicht eine Tätigkeit unter anderen, sondern
Hauptinhalt der beruflichen oder ehrenamtlichen Tätigkeit ist. Im Blick sind also zunächst die
besonderen Seelsorgedienste (ohne Anspruch auf Vollständigkeit):
  • in kirchenkreislicher Verantwortung:
    Krankenhausseelsorge, Seelsorge im Alter, Notfallseelsorge, AIDS-Seelsorge, Beratungsstellen, Schulseelsorge u. a. m.
  • in landeskirchlicher Verantwortung:
    Gefängnisseelsorge, Gehörlosen- und Schwerhörigen-, Blinden- und Sehbehindertenseelsorge, Polizei-, Notfall- und Feuerwehrseelsorge, Flughafen-, Biker-Seelsorge, Schulseelsorge
  • in diakonischer Verantwortung:
    Krankenhausseelsorge, Seelsorge im Alter, Beratungsstellen u. a. m.
Schon in diesen Bereichen ist die Seelsorge-Beauftragung unter Anwendung des SeelGG jeweils situationsangemessen zu prüfen.
(So bedarf es im Bereich der Schulseelsorge aufgrund der Überschneidung von kirchlichem und schulischem Auftrag ggf. ergänzender Regelungen. Für den Bereich der Telefonseelsorge haben erste Gespräche gezeigt, dass aus verschiedenen Gründen die bisherigen Regelungen zum Schutz des Seelsorgegeheimnisses sinnvoller sind. Ähnliches gilt möglicherweise für die Notfallseelsorge bei sehr unterschiedlich zusammengesetzten Teams.)
Aber auch gemeindlich spielt Seelsorge eine große Rolle. Es gibt auch Seelsorge-relevante besondere Einrichtungen in gemeindlicher Trägerschaft. Ob allerdings für gemeindliche Besuchsdienste u. a. m. die Anwendung des SeelGG sinnvoll ist, sollte kritisch geprüft werden. Anderssieht es ggf. in der Jugendarbeit aus …
Jede Neuregelung bringt auch neue Fragen mit sich:
Was ist mit SeelsorgerInnen, die nicht so ausgebildet sind? – Es gibt Seelsorgebereiche mit Ausbildungen, die weniger als 80 Einheiten (entspr. Seelsorge-Zertifikat) umfassen. Sie und die in ihnen Tätigen haben ihren Stellenwert, und es können Tätigkeitsvereinbarungen (dann ohne Seelsorge-Zertifikat) geschlossen werden; sie können aber nicht Regelungen des SeelGG und auf diesem Wege staatliches Zeugnisverweigerungsrecht beanspruchen.
Was ist mit SeelsorgerInnen, die keine Kirchenmitgliedschaft haben? – Beispielsweise in der Notfallseelsorge oder in der Telefonseelsorge kommt dies häufiger vor; durch die Ausbildung gewinnen Menschen etwas für sich, und sie engagieren sich, investieren in seelsorgliche Zuwendung. Und sie kommen damit neu mit christlichen Grundlagen und Kirche in Berührung. Das ist gut so. Um sich als "Geistliche/r" der Kirche ausweisen zu können, fehlt jedoch die Kirchenmitgliedschaft als Grundlage.
Wie gewährleistet die Kirche Seelsorgenden Schutz und Fürsorge, die nicht unter die Neuregelung fallen? – Die jeweilige kirchliche/diakonische Stelle wird transparent machen, wie sie die Arbeit der Seelsorgenden schätzt, was sie (entsprechend dem SeelGG und einer bestimmten Seelsorge-Beauftragung) leider nicht gewährleisten kann und was sie in dem Sinne tun wird, dass die jeweilige Leitungsperson sich vor die Seelsorgenden stellt.
Wie können Seelsorgende ohne bestimmte Beauftragung (entspr. SeelGG ) sich verhalten? – Sie sollen wissen, dass sie im Sinne der Kirche seelsorglich handeln. Es gibt auch andere Formen der Beauftragung zur Seelsorge (s. o.). Auch für sie gilt die seelsorgliche Schweigepflicht. Da für sie jedoch das staatliche Zeugnisverweigerungsrecht nicht erreichbar ist, sollen sie ihrem Gesprächspartner gegenüber diese Grenze rechtzeitig benennen.
Angesichts dieser Fragen muss noch einmal klargestellt werden: Die Seelsorge der Kirche ist viel breiter, als dass sie vom SeelGG erfasst werden könnte! Das SeelGG regelt nur einen sehr begrenzten Bereich.
Noch zwei Hinweise:
  • Zur Seelsorge insgesamt ist auf EKD-Ebene eine Schrift in Arbeit, die das Profil und Herausforderungen evangelischer Seelsorge eingehend darstellt; sie soll noch in diesem Jahr zur Veröffentlichung kommen.
  • Für das Wirken der Kirche ist das Seelsorgegeheimnis von zentraler Bedeutung. Wie sonst könnten Menschen sich anvertrauen? Gerade weil das Seelsorgegeheimnis für den Vertrauensvorschuss eine hohe und kaum zu überschätzende Bedeutung hat, gibt es in der Praxis zum Umgang mit dem Seelsorgegeheimnis auch viele Fragen. Wie z. B. ist mit dem Seelsorgegeheimnis umzugehen, wenn im Zusammenhang von Missbrauch Gefahr im Verzuge ist? usw. – Zu diesen Fragen ist in der Nordkirche derzeit eine Arbeitshilfe in Arbeit.
Wir hoffen, Ihnen mit diesem Schreiben über die gesetzlichen Texte hinaus einige hilfreiche Erläuterungen gegeben zu haben. Wir rechnen auch damit, dass sich in der Praxis offene Punkte ergeben, die zuvor nicht im Blick waren.
Für Nachfragen stehen gern bereit: der Leiter des Hauptbereichs 2 für Seelsorge, Beratung und ethischen Diskurs – Seelsorge-Fachstelle – Sebastian Borck sowie bei Bedarf aus dem Landeskirchenamt OKR Dr. Frank Ahlmann aus dem Dezernat Kirchliche Handlungsfelder und OKR Dr. Matthias Triebel aus dem Dezernat Dienst und Arbeitsrecht.
Mit freundlichen Grüßen
Sebastian Borck
Literaturhinweise
Michael Coors, Dorothee Hart, Dietgard Demetriades: Das Beicht- und Seelsorgegeheimnis im Kontext der Palliativversorgung. Diskussionspapier der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), in: Wege zum Menschen 66 (2014), Heft 1, 91-98.
Kirsten Fehrs: Missbrauch in der Institution Nordkirche.
Bericht vor der Landessynode im Februar 2014.
Kerstin Lammer, Sebastian Borck, Ingo Habenicht, Traugott Roser: Menschen stärken. Seelsorge in der evangelischen Kirche, Gütersloh 2015.
Klaus Mertes: Beichte ist Bürde, in: Die ZEIT 17.8.2017
Interview von Sabine Oberpriller mit Annegret Reitz-Dinse: Wann dürfen Seelsorger ihr Schweigen brechen?, in: Chrismon Mai 2016
Henning Radtke: Der Schutz des Beicht- und Seelsorgegeheimnisses, in: ZevKR 52 (2007), 617-649.
Heike Schneidereit-Mauth: Ressourcenorientierte Seelsorge, Gütersloh 2015, darin S. 97ff.
Bärbel von Wartenberg-Potter: Wir werden unsere Harfen nicht an die Weiden hängen. Engagement und Spiritualität, Stuttgart 1986, darin S. 9ff.
Friedrich Winter: Zur Verschwiegenheit des kirchlichen Mitarbeiters, in: Christenlehre 1979, Heft 2, 35-42.
Aus anderen Kirchen:
Nur für Ihr Ohr bestimmt! Informationen zur Schweigepflicht für Mitarbeitende im ehrenamtlichen Seelsorgedienst und im Besuchsdienst, Ev. Kirche in Baden 2012
Praxishilfe Ehrenamt: Verschwiegenheit und Seelsorgegeheimnis, Ev.-Luth. Kirche in Bayern, 2016.
Petra Knötzele: Merkblatt zu Fragen des Seelsorgegeheimnisses, der Schweigepflicht, der Amtsverschwiegenheit und des
Zeugnisverweigerungsrechts, Ev. Kirche in Hessen und Nassau 2010.
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz (Hg.): Zeugenaussage, Zeugnisverweigerungsrecht und Schweigepflicht. Ein juristischer Leitfaden für Seelsorger zum Schutz des Beicht- und Seelsorgegeheimnisses, Bonn 2008
Diskussion im Zusammenhang mit dem Absturz des Germanwings-Airbus am 24.3.2015:
Interview von Daniele Vates mit Gunnar Duttge über den Sinn von ärztlicher Schweigepflicht: „Es muss eine gesetzliche Grundlage geben“, in: Frankfurter Rundschau 31.3.2015;
„Gefährliche Diskussion“. Mediziner und Piloten gegen Lockerung der ärztlichen Schweigepflicht, in: Frankfurter Rundschau 1.4.2015;
Ernst Girth: Hände weg von der Schweigepflicht, in: Frankfurter Rundschau 16.4.2015;
Evelyn Finger: Das Geheimnis, ein Menschenrecht, in: Die ZEIT 9.4.2015;
Rede von Joachim Gauck beim Trauerakt zum Gedenken an die Opfer des Flugzeugabsturzes, 17.4.2015.
Mitglieder der Arbeitsgruppe und Mitwirkende
An der Handreichung haben mitgewirkt und Beiträge verfasst
(die Abschnitte sind in Klammern angegeben):
  • Dr. Frank Ahlmann, Oberkirchenrat im Landeskirchenamt, Dezernat Kirchliche Handlungsfelder (12)
  • Katrin Anton, Oberkirchenrätin im Landeskirchenamt, Dezernat Dienst- und Arbeitsrecht (4, 12)
  • Gudrun Bielitz-Wulff, Pastorin in der Arbeitsstelle für Personal- und Gemeindeentwicklung des Kirchenkreises Rendsburg-Eckernförde (11)
  • Sebastian Borck, Leitender Pastor des Hauptbereichs Seelsorge und gesellschaftlicher Dialog (2, 4, 6, 9, 11, 12, 13)
  • Reinhard Dircks, Pastor, Leiter des Beratungs- und Seelsorgezentrums St. Petri in Hamburg (1, 13)
  • Florian Sebastian Ehlert, Pastor in der Krankenhausseelsorge im St. Adolf-Stift in Reinbek (3, 8)
  • Doreen Gliemann, Internetbeauftragte der Nordkirche (7)
  • Andreas Hänßgen, Pastor i. R., ehem. Leiter des Bereichs Seelsorge und Beratung im Diakonischen Werk Hamburg (7)
  • Martin Kühn, Pastor in der Gefängnisseelsorge in Waldeck (6)
  • Anne Reichmann, Pastorin in der Institutionsberatung, Geschäftsführerin des Pastoralpsychologischen Instituts im Norden e.V. (10)
  • Manfred Rosenau, Pastor in der Krankenhausseelsorge im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
  • Bettina Seiler, Pastorin in der Familien- und Lebensberatung in Pinneberg
  • Dr. Matthias Triebel, Oberkirchenrat im Landeskirchenamt, Dezernat Dienst- und Arbeitsrecht (4)
  • Andreas Wandtke-Grohmann, Pastor im Gemeindedienst im Hauptbereich Gottesdienst und Gemeinde (5)

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2 ↑ Red. Anm.: Titelbild hier nicht abgebildet.
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3 ↑ Red. Anm.: Auf die Abbildung des Rechtstextes aus dem Anhang der Handreichung wurde verzichtet, wir verweisen auf die jeweils geltende Textfassung unter der Ordnungsnummer 3.150.
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4 ↑ Red. Anm.: Auf die Abbildung des Rechtstextes aus dem Anhang der Handreichung wurde verzichtet, wir verweisen auf die jeweils geltende Textfassung unter der Ordnungsnummer 3.153.
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5 ↑ Red. Anm.: Auf die Abbildung des Rechtstextes aus dem Anhang der Handreichung wurde verzichtet, wir verweisen auf die jeweils geltende Textfassung unter der Ordnungsnummer 3.153-101.
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6 ↑ Red. Anm.: Auf die Abbildung des Rechtstextes aus dem Anhang der Handreichung wurde verzichtet, wir verweisen auf die jeweils geltende Textfassung unter der Ordnungsnummer 7.240.
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7 ↑ Red. Anm.: Auf die Abbildung des Rechtstextes aus dem Anhang der Handreichung wurde verzichtet, wir verweisen auf die jeweils geltende Textfassung unter der Ordnungsnummer 7.240.
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8 ↑ Red. Anm.: Auf die Abbildung des Rechtstextes aus dem Anhang der Handreichung wurde verzichtet, wir verweisen auf die jeweils geltende Textfassung unter der Ordnungsnummer 7.240.
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9 ↑ Red. Anm.: Auf die Abbildung des Rechtstextes aus dem Anhang der Handreichung wurde verzichtet, wir verweisen auf die jeweils geltende Textfassung unter der Ordnungsnummer 3.150.
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10 ↑ Red. Anm.: Auf die Abbildung der Rechtstexte aus dem Anhang der Handreichung wurde verzichtet, wir verweisen auf die jeweils geltenden Textfassungen unter den Ordnungsnummern 3.153 und 3.153-101.
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11 ↑ Red. Anm.: Der KAT wurde mit Wirkung zum 1. Juli 2023 in TV KB umbenannt und inhaltlich neu gefasst.
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12 ↑ Red. Anm.: Das Zitat ist veraltet. Der KAT wurde mit Wirkung zum 1. Juli 2023 in TV KB umbenannt und inhaltlich neu gefasst.
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13 ↑ Red. Anm.: Der KAT wurde mit Wirkung zum 1. Juli 2023 in TV KB umbenannt und inhaltlich neu gefasst.
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14 ↑ Red. Anm.: Die KAVO-MP wurde mit Wirkung zum 1. Juli 2023 durch den TV KB abgelöst.
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15 ↑ Red. Anm.: Auf die Abbildung der Rechtstexte aus dem Anhang der Handreichung wurde verzichtet, wir verweisen auf die jeweils geltenden Textfassungen in der Onlinerechtssammlung, vgl. Fußnote zur Inhaltsübersicht.
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16 ↑ Red. Anm.: Die Anlagen des Schreibens sind nicht Bestandteil der Handreichung.
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17 ↑ Red. Anm.: Die Anlage des Schreibens ist nicht Bestandteil der Handreichung.
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18 ↑ Red. Anm.: Das Muster ist nicht Bestandteil der Handreichung.
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19 ↑ Red. Anm.: Das Muster ist nicht Bestandteil der Handreichung.
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20 ↑ Red. Anm.: Die Gebrauchsanweisung ist nicht Bestandteil der Handreichung.
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21 ↑ Red. Anm.: Das Muster ist nicht Bestandteil der Handreichung.